Aus einer umfassenden Metaanalyse mit Daten von über 56 Millionen Mutter-Kind-Paaren, publiziert in The Lancet Diabetes & Endocrinology, geht hervor, dass Diabetes in der Schwangerschaft mit einem um 28 % erhöhten Risiko (RR 1,28) für neurologische Entwicklungsstörungen beim Kind verbunden ist. Besonders betroffen sind Autismus (RR 1,25), ADHS (RR 1,30) und geistige Behinderungen (RR 1,32). Ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender Diabetes erhöht das Risiko stärker als Schwangerschaftsdiabetes (RR 1,39 versus RR 1,18). Experten betonen jedoch, dass das absolute Risiko gering ist und die meisten Kinder nicht betroffen sind. Die Studie unterstreicht die Bedeutung einer guten Blutzuckerkontrolle während der Schwangerschaft, ohne dass spezielle Screenings für Kinder diabetischer Mütter notwendig wären.
Umfassende Datenanalyse liefert neue Erkenntnisse
Chinesische Forschende werteten 202 Studien mit über 56 Millionen Mutter-Kind-Paaren aus. Die Ergebnisse zeigen ein erhöhtes relatives Risiko für verschiedene neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern von Müttern mit Diabetes. Es werden jeweils zwei Risiken miteinander verglichen – das Risiko eine Störung zu entwickeln bei Schwangeren ohne Diabetes mit dem Risiko von Schwangeren mit Diabetes. Die Studie ermittelt nach Bereinigung diverser Störfaktoren ein erhöhtes Risiko für Autismus (25 %, RR 1,25), ADHS (30 %, RR 1,3), geistige Behinderung (32 %, 1,32), spezifische Entwicklungsstörungen (27 %, RR 1,27), Kommunikationsstörungen (20 %, RR 1,2), motorische Störungen (17 %, RR 1,17) und Lernstörungen (16 %, RR 1,16).
Prof. Dr. Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, nimmt Stellung zur Studie und erklärt: »Hinweise auf ein erhöhtes Risiko neuropsychiatrischer Probleme bei Kindern nach einer durch Diabetes mellitus komplizierten Schwangerschaft sind vielfältig, aber inkonsistent und teilweise widersprüchlich. Die aktuelle Metaanalyse mit ihrer riesigen Datenbasis – 202 Studien mit zusammen über 56 Millionen Mutter-Kind-Paaren – zeigt nun für alle untersuchten Zielvariablen (Entwicklungsstörungen, Intelligenzdefizite, Lernschwierigkeiten, Autismus-Spektrum-Störungen [ASD] und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen [ADHS]) relativ einheitlich eine Zunahme des relativen Risikos im Bereich von 10 % bis 30 %. Da das absolute Risiko dieser Störungen klein ist, sind die allermeisten Kinder nicht betroffen.«
Prof. Dr. Jardena Puder, Leiterin der Sprechstunde für Diabetes und Schwangerschaft im Département Femme-mère-enfant, Universitätsspital Lausanne, Schweiz, erläutert: »Die Ergebnisse scheinen frühere Daten zu bestätigen, aber ein kausaler Zusammenhang zwischen Diabetes in der Schwangerschaft und neurologischen Beeinträchtigungen des Kindes ist nicht bestätigt.« Prof. Puder sagt zudem: »Die Analyse umfasst zwar nur wenige Geschwisteranalysen, aber diese deuten darauf hin, dass gemeinsame familiäre oder genetische Faktoren zu den beobachteten Assoziationen beitragen könnten. Dazu könnte möglicherweise auch eine gemeinsame Fehlregulation des Immunsystems gehören.«
Zu den Limitationen der Metaanalyse meint Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, es handle sich bei den eingeschlossenen Studien um Kohortenstudien und Observationsstudien, die teilweise sehr heterogen seien und auch verschiedene Bias aufweisen.
»Es besteht also eine gewisse Evidenz für Assoziationen, aber kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang. Genetische Faktoren und Umwelteinflüsse, der sozioökonomische Status und die frühkindliche Entwicklung – insbesondere die Ernährung und die Stilldauer – sowie der spätere Lebensstil tragen wesentlich zu all diesen Effekten bei. Geschwisterstudien haben jedenfalls den dominierenden Effekt der mütterlichen Hyperglykämie auf diese Ergebnisse großteils nicht bestätigt.«
Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin des Bereichs Gender Medicine, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Klinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, Österreich
Unterschiede zwischen Diabetes-Typen
Ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender Diabetes war stärker mit dem Risiko der meisten neurologischen Entwicklungsstörungen verbunden als Schwangerschaftsdiabetes (relatives Risiko 1,39 versus 1,18).
»Es scheint eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zu geben: je früher die Diagnose Diabetes in der Schwangerschaft gestellt wird, desto deutlicher die Zunahme des Risikos für kindliche neuropsychiatrische Erkrankungen. Beim Gestationsdiabetes wurde zwar eine Assoziation mit ASD und ADHS in den herangezogenen Populationsstudien beobachtet, nicht aber in den Geschwisterstudien. Dies spricht gegen einen direkten Kausalzusammenhang – die Assoziation zwischen Diabetes und den neuropsychiatrischen Erkrankungen dürfte mehr durch die genetischen und Lebensstil-Gemeinsamkeiten von Müttern und Kindern bedingt sein«, so Prof. Bührer.
Empfehlungen für die Praxis
Die S2e-Leitlinie »Diabetes in der Schwangerschaft« hält fest, dass die bisherige Evidenz zum Einfluss von Diabetes auf die neurologische Entwicklung nicht stark genug ist, um spezifische Maßnahmen abzuleiten. Auch die Studienautoren und -autorinnen fordern weitere Forschung, um eine kausale Beziehung zweifelsfrei feststellen zu können.
»Die kleine Zunahme des absoluten Risikos bei Kindern diabetischer Mütter rechtfertigt keine Sonderbehandlung und bärge eher die Gefahr einer Stigmatisierung.«
Prof. Dr. Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Prof. Bührer betont: »Ausschau zu halten nach Entwicklungsverzögerungen und neuropsychiatrischen Erkrankungen wie ASD und ADHS ist Gegenstand der Vorsorgeuntersuchungen gemäß der Kinderrichtlinie. Es gibt Bestrebungen, im Rahmen dieser Vorsorgeuntersuchungen frühzeitiger systematisch für ASD und ADHS zu screenen, und zwar bei allen Kindern. Die kleine Zunahme des absoluten Risikos bei Kindern diabetischer Mütter rechtfertigt keine Sonderbehandlung und bärge eher die Gefahr einer Stigmatisierung.«
Quellen:
- Pressemitteilung des Science Media Centers Germany.
- Ye W, Luo C, Zhou J, Liang X, Wen J, Huang J, et al. Association between maternal diabetes and neurodevelopmental outcomes in children: a systematic review and meta-analysis of 202 observational studies comprising 56·1 million pregnancies. Lancet Diabetes Endocrinol 2025 Apr 7:S2213-8587(25)00036-1.
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