Die weltweit erste erfolgreiche Thalassämie-Gentherapie mit der Genschere CRISPR/Cas9 bietet eine Möglichkeit für Patientinnen und Patienten, ein weitgehend normales Leben zu führen. Bisher standen in der Behandlung von Thalassämie nur lebenslange Bluttransfusionen zur Verfügung, auch eine Stammzelltransplantation kommt infrage – jedoch können nicht für alle Betroffenen geeignete Spenderzellen gefunden werden.
Im Alter von einem Jahr wurde festgestellt, dass der Körper von Eleni C. zu wenig Hämoglobin bildet. Die Diagnose ß-Thalassämie prägte seitdem ihr ganzes Leben. Alle vier Wochen musste sie in die Tübinger Kinderklinik kommen, damit Hämoglobin zugeführt werden konnte. Seit 2021 ist damit Schluss. Die junge Frau hat als eine von 52 Kindern und jungen Erwachsenen an einer der weltweit ersten Studien teilgenommen, in der Thalassämie-Erkrankte mit einer Gentherapie behandelt wurden. Die Therapie von Eleni C. liegt mittlerweile drei Jahre zurück. Alle drei Monate kommt sie für Kontrollen in die Kinderklinik – die Blutbildung funktioniert einwandfrei. Weit mehr als 90 % der Teilnehmenden können seit mehr als 12 Monaten ohne Transfusionen leben. Die in Tübingen mitentwickelte Gentherapie ist bereits von der EMA zugelassen.
Seit mehreren Jahren ist das klinikeigene Labor für Gentherapie unter Leitung von PD Dr. Dr. Markus Mezger an der Erforschung der Therapie beteiligt. Nun konnten gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 15 Kliniken in den USA und Europa, darunter neben dem Universitätsklinikum Tübingen auch die Universitätskliniken Düsseldorf und Regensburg, Zulassungsstudien durchgeführt werden. Die Ergebnisse wurden aktuell im New England Journal of Medicine veröffentlicht. »Die Gentherapie ist ein fantastisches Beispiel dafür, dass Gentherapien wirksam sind und im klinischen Alltag angewendet werden können«, so Prof. Dr. Peter Lang. Er leitet die Stammzelltransplantationen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und behandelt seit 20 Jahren Patientinnen und Patienten mit Thalassämie.
Die Therapie kann von wenigen Monaten bis zu einem Jahr dauern. Zunächst werden Stammzellen aus dem Blut entnommen. Die Gentherapie verändert die blutbildenden Stammzellen der Patientinnen und Patienten mit der Genschere CRISPR/Cas9 so, dass diese wieder das funktionsfähige Hämoglobin des frühen Kindesalters (fetales Hämoglobin) bilden, das keine Schäden trägt. Dadurch können die Betroffenen wieder ohne Bluttransfusionen leben. Danach werden die Erkrankten mit einer Chemotherapie behandelt, die das eigene Knochenmark auslöscht. Im Anschluss werden die genmodifizierten Stammzellen transplantiert, aus denen dann die Blutbildung erneut wieder entsteht.
Therapie ist auch für die Sichelzellkrankheit geeignet
Ersetzen soll die Gentherapie die Stammzelltransplantation von gesunden Spenderinnen und Spendern nicht grundsätzlich. »Die Therapie ist vielmehr eine Chance für Erkrankte, für die kein Spender gefunden werden kann oder die aus anderen Gründen keine fremden Stammzellen bekommen können«, erklärt Prof. Dr. Lang. Wenn die Auswirkungen der ß-Thalassämie schon zu weit fortgeschritten sind, ist die Genveränderung ebenso ein neuer Behandlungsansatz. Nicht nur für die verschiedenen Formen der Thalassämie ist die Therapie entwickelt worden. Auch für die Sichelzellkrankheit, die wie die Thalassämie zu den Hämoglobinopathien zählt, ist sie geeignet.
Zahl der Thalassämie-Betroffenen in Mitteleuropa gestiegen
Die Hämoglobinopathien sind mit 7 % der Weltbevölkerung als Anlageträger die weltweit häufigsten monogenen Erbkrankheiten. Bei Thalassämie haben die Erythrozyten aufgrund eines Hämoglobindefekts eine geringere Funktionsfähigkeit und eine kürzere Lebensdauer, zudem werden sie in geringerer Zahl gebildet als bei gesunden Menschen. Die Folge ist eine Blutarmut, sodass der Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Unbehandelt kommt es bei Patientinnen und Patienten zu einer massiven Leber- und Milzvergrößerung, zur Veränderung der Knochenmarksräume und zu Fehlbildungen am Skelettsystem. Ohne eine adäquate Therapie sterben betroffene Kinder bis zum fünften Lebensjahr. Thalassämie kommt vor allem in den Mittelmeerländern, in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, auf dem indischen Subkontinent, in Südostasien und in Afrika vor. In Mitteleuropa ist die Zahl von Patientinnen und Patienten sowie Anlageträgern in den letzten Jahrzehnten durch Migration erheblich gestiegen. Schätzungen zufolge leben in Deutschland derzeit etwa 600 Personen mit der schweren Form der ß-Thalassämie (Thalassämia major) und etwa 160.000 Menschen mit Thalassämia minor.
Quelle: Universitätsklinikum Tübingen (zur Pressemitteilung)
Originalpublikation:
Locatelli F, Lang P, Wall D, Meisel R, Corbacioglu S, Li AM, et al.; CLIMB THAL-111 Study Group. Exagamglogene Autotemcel for Transfusion-Dependent β-Thalassemia. N Engl J Med 2024 Apr 24. doi: 10.1056/NEJMoa2309673. Epub ahead of print. PMID: 38657265.
Link zur Originalpublikation: https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2309673
Zusätzliche Informationen:
Publikation zur Sichelzellkrankheit: Frangoul H, Locatelli F, Sharma A, Bhatia M, Mapara M, Molinari L, et al.; CLIMB SCD-121 Study Group. Exagamglogene Autotemcel for Severe Sickle Cell Disease. N Engl J Med 2024 Apr 24. doi: 10.1056/NEJMoa2309676. Epub ahead of print. PMID: 38661449. Link: https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa2309676



