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Radikale Zystektomie bei ­querschnittgelähmten Patienten

Radikale Zystektomie bei ­querschnittgelähmten Patienten

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Onkologie

Urogenitale Tumoren

Urothel- und Blasenkarzinom

mgo medizin

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8 MIN

Erschienen in: ärztliches journal onkologie

Tumoren sind aufgrund des medizinischen Fortschritts die dritthäufigste Todesursache bei Menschen mit Querschnittlähmung, wobei das Harnblasen­karzinom nach dem Lungenkrebs die zweithäufigste Krebsart ist1. Dabei ist zu beachten, dass sich das Harnblasen­karzinom bei Patienten, die länger als zehn Jahre gelähmt sind, von dem der Allgemeinbevölkerung und von dem der erst kurzfristig ­querschnittgelähmten Menschen unter­scheidet2. 
Querschnittgelähmte Patienten sind bei Diagnosestellung des Harnblasentumors im Durchschnitt zwei Jahrzehnte jünger als nicht gelähmte Menschen3,4. Deren Tumor wird bei Erstdiagnose im Vergleich zu dem in der Allgemein­bevölkerung häufiger als aggressiv (high grade) in einem fortgeschrittenen Tumorstadium diagnostiziert (hoher muskelinvasiver Anteil (MIBC)). Dabei ist der Anteil an Plattenepithelkarzinomen deutlich höher5. 
Die Prognose ist sehr ungünstig3. Rund 50€…% der Harnblasenkarzinompatienten mit chronischer Querschnittlähmung versterben innerhalb des ersten Jahres nach Diagnosestellung3,6, während rund 80€…% der Harnblasenkarzinompatienten aus der Allgemeinbevölkerung die Fünfjahresgrenze überleben7. Wegen dieser Beobachtung hat die Indikation zu der inzwischen bei nicht gelähmten Patienten etablierten radikalen Zystektomie auch bei querschnittgelähmten Tumorpatienten in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Allerdings sind bei diesen Patienten Querschnittlähmungs-spezifische Besonderheiten zu beachten, von denen die für den Onkologen wichtigsten im Folgenden beschrieben werden. 

Material und Methoden 

Zwölf querschnittgelähmte Patienten mit Harn­blasenkarzinom des BG Klinikum Hamburg, bei denen zwischen 01.01.2001 und 31.12.2020 im Asklepios Krankenhaus Barmbek, Hamburg, eine offene radikale Zystektomie mit beidseitiger Beckenlymphknotendissektion erfolgte, wurden ausgewertet. Alle Operationen führte derselbe erfahrene Chirurg (H.B.) unter Assistenz des betreuenden Neuro-Urologen (R.B.) durch. Während des Studienzeitraums wurde noch keine neoadjuvante Chemotherapie angeboten, weil der ECOG Performance Status8 bei allen Patienten mindestens 2 bzw. der Karnofsky-Index8 60€…% oder geringer war und die Patienten somit nicht als „cisplatinfit“ gelten. 

Eine kürzlich publizierte Checkliste mit Empfehlungen für ein optimales präoperatives, intraoperatives und postoperatives Management von querschnittgelähmten Patienten mit Harnblasenkarzinom10,11 basiert neben der Erfahrung aus den eigenen zwölf radikal zystektomierten Patienten auch auf der Erfahrung von weiteren 13 Patienten, die in verschiedenen Krankenhäusern unter unterschiedlichen operativen, perioperativen und anästhesiologischen Protokollen und Strategien radikal zystektomiert wurden. 

Ergebnisse 

Untersuchte Patienten 
Von den eigenen zwölf Patienten dieser Studie waren zehn männlich. Das mittlere Alter zum Zeitpunkt der Diagnosestelltung lag bei 55 Jahren (Interquartilsbereich (IQR) 52 €“ 63). Die mittlere Lähmungsdauer bis zur Diagnosestellung betrug 29 (IQR 24 €“ 37) Jahre. 

Peri- und postoperative Ergebnisse 
Von diesen Patienten unterzogen sich zehn Patienten einer radikalen Zystektomie mit Ileumkonduit und zwei Patienten einer radikalen Zystektomie mit kutaner Ureterostomie. Die mediane Operationszeit betrug 203 (IQR 183 €“ 316) Minuten. Der mediane Blutverlust betrug 800 (IQR 213 €“ 1400) ml. Es wurden keine relevanten anästhesiologischen oder chirurgischen intraoperativen unerwünschten Ereignisse verzeichnet. 

Im postoperativen Verlauf traten am häufigsten infektiöse Komplikationen auf (n=10 Patienten). Ein Patient musste aufgrund einer Fasziendehiszenz erneut operiert werden. Es trat kein mechanischer Ileus auf. Bei vier Patienten wurde ein paralytischer Ileus konservativ behandelt. Klinisch relevante Urinextravasate oder Lymphozelen wurden während der stationären Behandlung nicht beobachtet. Kardiale oder pulmonale Komplikationen sowie tiefe Venenthrombosen oder Lungenembolien wurden ebenfalls nicht verzeichnet. Ein Patient erhielt bei postoperativem Hämoglobinwert unter 8,0 g/dl zwei Bluttransfusionen. 

Überleben 
Die zwölf in Hamburg mit kurativer Intention radikal zystektomierten chronisch querschnittgelähmten Patienten wiesen eine mediane Überlebenszeit von 13,0 Monaten auf. Alle zehn Patienten mit MIBC starben an fortschreitendem Harnblasenkarzinom (medianes Überleben 10 Monate, Spanne 4€“23 Monate). Einer der beiden Patienten mit NMIBC (jeweils pTa) in der definitiven Histologie nach der radikalen Zystektomie nach vorhergegangener TUR-B starb später an einer akuten gastrointestinalen Blutung, während der andere bisher tumorfrei überlebt. 
Bei zehn Patienten wurde histologisch ein Urothelkarzinom, bei zwei Patienten ein Plattenepithelkarzinom diagnos­tiziert. Bei sechs Patienten fand sich ein pT4-Tumor, fünf Patienten hatten positive Lymphknoten. Die Resektionsränder waren bei zwei Patienten positiv. 

Spezielle Aspekte bei einer ­radikalen Zystektomie bei ­querschnittgelähmten Patienten

Das Behandlungsteam muss sich darüber im Klaren sein, dass alle Gewebefunktionen unterhalb des Querschnittlähmung durch die Denervierung beeinträchtigt sind. Daher müssen zahlreiche Aspekte berücksichtigt werden, die über das konventionelle chirurgische Vorgehen bei nicht gelähmten Patienten hinausgehen. Um diese Herausforderung zu meistern, haben wir eine in die Abschnitte präoperativ, intraoperativ und postoperativ unterteilte Checkliste entwickelt10,11. Deren für onkologisch tätige Ärzte wichtigen praktischen Aspekte werden im Folgenden kurz dargestellt. 

Präoperativ 
Präoperativ ist über die optimale Harnableitung und Medikation zu entscheiden. Zum Beispiel muss die Sitzposition im Rollstuhl bei der Positionierung der künstlichen Harnableitung besonders berücksichtigt werden. 

Auch wenn eine neoadjuvante Therapie in der Studiengruppe seinerzeit noch nicht angeboten wurde, ist zukünftig zu prüfen, ob die Patienten cisplatinfit sind, um ihnen diese präoperative Option zur Prognoseverbesserung anbieten zu können, da sie sich bei nicht querschnittgelähmten Patienten etabliert hat12, oder ob sie für andere neoadjuvante Therapieformen geeignet sind, da neue Therapieansätze insbesondere im Bereich der Immunologie vielversprechend sind13. Als Voraussetzung für eine cisplatinhaltige Chemotherapie gilt entsprechend der Leitlinienempfehlung u.a. ein WHO/ECOG Perfomance Status von kleiner als 2, der bei nicht gehfähigen, querschnittgelähmten Patienten regelmäßig nicht vorliegt (ECOG Score 2)14,9. 

In der Regel haben querschnittgelähmte Patienten in den zurückliegenden Jahren unter rezidivierenden Harnwegsinfektionen gelitten. Wegen der daraus resultierenden schwierigen anatomischen Verhältnisse, wie entzündliche Veränderungen und Vernarbungen, ist mit erhöhtem Blutverlust und verlängerter Operationszeit zu rechnen. 

Intraoperativ 
Intraoperativ finden sich meist die bereits erwarteten anatomischen Veränderungen. Häufig ist der Tumor lokal weiter fortgeschritten. Dadurch wird der präoperativ kalkulierte Schwierigkeitsgrad nochmals erhöht. Zudem müssen mögliche Implantate (bspw. Neuromodulatoren oder Vorderwurzelstimulatoren) als Erschwernisse beachtet werden. 
Postoperativ 
Engmaschige Überwachung der Atemwege, der Wundheilung und der Haut, insbesondere Beachtung von Druckschäden (Dekubitus), haben sich bewährt. Das Hauptproblem ist meist die gleichzeitig bestehende neurogene Darmfunktionsstörung mit z.T. erheblichem Meteorismus, verlängerter Darmatonie und erhöhter Gefahr einer Bauchfellentzündung bzw. einer Nahtinsuffizienz bei Ableitung über Darmsegmente. Eine physiotherapeutische Atemtherapie sollte möglichst noch auf der Intensivstation begonnen werden. Auf Zeichen einer autonomen Dysreflexie ­(hypertone Blutdruck-Krisen und Herzfrequenz-Abfall) muss geachtet werden. 

Diskussion

Auch wenn die radikale Zystektomie bei querschnittgelähmten Patienten höhere Anforderungen stellt, belegen die Ergebnisse Durchführbarkeit und peri- und postoperative Sicherheit, wenn die speziellen Besonderheiten Beachtung finden. 
Trotz der sehr ungünstigen Prognose sollten onkologisch tätige Ärzte querschnittgelähmten Patienten zu einer radikalen Zystektomie raten15,16. 
In Anbetracht der ungünstigen Prognose und der problematischen Nachsorge, wenn querschnittgelähmte Patienten blasenerhaltend behandelt werden, sollte die Indikation zur radikalen Zystektomie generell großzügig und sehr früh gestellt werden. Bei diesen Patienten (insbesondere Tetraplegikern und Paraplegikern mit einem Lähmungsgrad oberhalb des 6. thorakalen Rückenmarksegments) birgt die Zystoskopie (neben dem Harnwegsinfektrisiko) ein erhebliches Risiko der Auslösung einer autonomen Dysreflexie mit hypertensiven Krisen und dem Risiko einer lebensbedrohlichen Bradykardie17.
Die schwierige zystoskopische Beurteilung der Harnblase nach transurethraler Resektion ist ein weiteres wichtiges Argument. Das Urothel dieser Patienten ist erheblich verändert. Die endoskopische Beurteilung der Harnblase, insbesondere das Erkennen einer biopsiepflichtigen Schleimhautveränderung zum histologischen Nachweis eines Carcinoma in situ oder eines rezidivierenden Karzinoms, ist schwierig. Zudem wird die zystoskopische Beurteilung durch chronische Veränderungen der Blasenwand, z.B. Trabekel und Pseudodivertikel, erschwert. 
Der Leidensweg der Patienten mit einem progredienten ­Tumor in einer erhaltenen Harnblase (dramatische Beeinträchtigung der Lebensqualität durch schwere und manchmal lebensbedrohliche Makrohämaturie, Blasentamponade und unerträgliche Schmerzen18,19) sollte unbedingt allen Patienten, insbesondere Querschnittgelähmten, erspart bleiben. 
Auch wenn die Prognose nach Zystektomie bei querschnittgelähmten Patienten schlecht ist, so konnte in einer großen Studie gezeigt werden, dass die Überlebenszeit bei nicht querschnittgelähmten Patienten mit fortgeschrittenen, d.h. muskelinvasiven Harnblasenkarzinomen der Tumorklassifikation cT2€“4 jedes N cM0 nach radikaler Zystektomie deutlich länger ist16. Diese durch die Operation erreichbare Verlängerung des Überlebens ist von der Ausdehnung der lymphogenen Metastasierung abhängig14. Die klinische Erfahrung zeigt, dass der Leidensweg im finalen Stadium der Erkrankung deutlich erträglicher ist als bei organerhaltendem Management der tumortragenden Harnblase, das letztendlich in ein therapeutisch nicht mehr beherrschbares Dilemma übergeht. 
Daher sollte speziell vor diesem Hintergrund eine radikale Zystektomie bei querschnittgelähmten Patienten immer unter den Bedingungen einer „High-Volume“ Klinik mit Erfahrung in der radikalen Zystektomie vom erfahrensten Operateur durchgeführt werden. Idealerweise assistiert ihm der den querschnittgelähmten Patienten betreuende Neuro-Urologe.

Korrespondenz-Adresse: 
PD Dr. Ralf Böthig E-Mail: r.boethig@bgk-hamburg.de

1Abteilung für Neuro-Urologie, Querschnittgelähmten-Zentrum, BG Klinikum Hamburg, 2Urologische Klinik, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg 3Biomechanisches Labor, BG-Klinikum Hamburg, Hamburg 4Sankt Augustin 5Mittelrhein-Klinik Fachklinik für psychosomatische Rehabilitation, Bopphard – Bad Salzig 6Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Dortmund

Die ausführliche Literaturliste können Sie bei c.weber@mgo-fachverlage anfordern

Korrespondenz-Adresse: 
PD Dr. Ralf Böthig E-Mail: r.boethig@bgk-hamburg.de

1Abteilung für Neuro-Urologie, Querschnittgelähmten-Zentrum, BG Klinikum Hamburg, 2Urologische Klinik, Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg 3Biomechanisches Labor, BG-Klinikum Hamburg, Hamburg 4Sankt Augustin 5Mittelrhein-Klinik Fachklinik für psychosomatische Rehabilitation, Bopphard – Bad Salzig 6Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), Dortmund

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