Die medizinische Diagnostik steht vor einem Paradigmenwechsel: Künstliche Intelligenz (KI) hält zunehmend Einzug in den klinischen Alltag und verspricht, Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosefindung zu unterstützen. Doch wie effektiv ist die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine wirklich? Eine aktuelle, groß angelegte Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zeigt, dass hybride Diagnose-Kollektive – also Teams aus menschlichen Fachkräften und KI-Systemen – deutlich genauere Diagnosen stellen als Mensch oder KI allein. Was bedeutet das für die Diabetologie?
Diagnosefehler: Ein zentrales Problem – auch in der Diabetologie
Fehldiagnosen gehören zu den gravierendsten Problemen im medizinischen Alltag und können für Menschen mit Diabetes schwerwiegende Folgen haben. Die Komplexität der Stoffwechselerkrankung, zahlreiche Begleiterkrankungen und die Notwendigkeit individueller Therapieentscheidungen stellen hohe Anforderungen an die diagnostische Präzision. Hier könnten KI-Systeme, insbesondere große Sprachmodelle wie ChatGPT-4 oder Gemini, neue Möglichkeiten eröffnen.
Mensch und KI: Ein starkes Team bei komplexen Diagnosen
Die Studie analysierte mehr als 2.100 realitätsnahe klinische Fallvignetten mit über 40.000 Diagnosen, die sowohl von medizinischen Fachkräften als auch von führenden KI-Modellen gestellt wurden. Das zentrale Ergebnis: Hybride Kollektive, in denen Mensch und KI gemeinsam Diagnosen stellen, sind signifikant genauer als reine Mensch- oder KI-Teams. Schon das Hinzufügen eines einzigen KI-Modells zu einer Gruppe von Ärztinnen und Ärzten – oder umgekehrt – verbesserte die Diagnosequalität spürbar.
Die Erklärung liegt in der sogenannten Fehlerkomplementarität: Mensch und Maschine machen systematisch unterschiedliche Fehler. Während KI-Modelle manchmal an Fällen scheitern, in denen menschliche Fachkräfte die richtige Diagnose kennen, können sie in anderen Fällen menschliche Fehler ausgleichen. In der Kombination werden diese Schwächen gegenseitig kompensiert – mit dem Ergebnis einer höheren Diagnosesicherheit.
Nutzen für die diabetologische Praxis
Gerade in der Diabetologie, wo die Differenzialdiagnose zwischen Diabetes-Typen, die Identifikation seltener Komplikationen (z.B. diabetische Neuropathie, Ketoazidose) oder die Früherkennung von Begleiterkrankungen entscheidend sind, könnte die Mensch-KI-Kollaboration einen echten Mehrwert bieten. KI-Modelle können beispielsweise große Mengen an Laborwerten, Anamnesedaten und klinischen Bildern analysieren und so Hinweise geben, die menschlichen Fachkräften im Alltag entgehen könnten.
Chancen und Herausforderungen
Die Ergebnisse der Studie unterstreichen das Potenzial für mehr Patientensicherheit und eine gerechtere Versorgung, insbesondere in unterversorgten Regionen. Für Diabetologinnen und Diabetologen bedeutet das: KI-Systeme könnten in Zukunft als wertvolle Ergänzung im diagnostischen Prozess dienen – nicht als Ersatz, sondern als Partner im Team. Gleichzeitig sind Fragen der praktischen Umsetzung, der Akzeptanz durch medizinisches Personal und Patient:innen sowie ethische Aspekte – etwa in Bezug auf Bias und Diskriminierung – weiterhin Gegenstand aktueller Forschung.
Fazit und Ausblick
Hybride Mensch-KI-Kollektive repräsentieren einen vielversprechenden Ansatz, um die Diagnosesicherheit in der Diabetologie zu erhöhen. Für die Praxis bedeutet das: Die kluge Integration von KI in den klinischen Alltag kann dazu beitragen, Fehlerquoten zu senken und die Versorgung von Menschen mit Diabetes weiter zu verbessern. Entscheidend bleibt, dass Ärztinnen und Ärzte die Kontrolle behalten und KI als Werkzeug zur Unterstützung ihrer Expertise nutzen.
Weiterführende Informationen:
Die Studie ist Teil des Horizon-Europe-Projekts „Hybrid Human Artificial Collective Intelligence in Open-Ended Decision Making” (HACID) und legt die Grundlage für die Entwicklung künftiger klinischer Entscheidungsunterstützungssysteme, die menschliche und künstliche Intelligenz intelligent integrieren.
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