Im Rahmen der Vorab-Pressekonferenz zur DDG-Herbsttagung 2025 stellte Jun.-Prof. Dr. Marie-Christine Simon, Leiterin der Forschungsgruppe „Computational Microbiome & Brain Health“ am Universitätsklinikum Bonn, die wachsende Bedeutung des Darmmikrobioms für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt. Das intestinale Mikrobiom wird heute nicht nur als entscheidender Faktor für Stoffwechsel und Immunsystem, sondern auch als wichtiger Regulator für Appetit und Essverhalten im Kindesalter angesehen.
Formbarkeit und Einflussfaktoren des kindlichen Mikrobioms
Das kindliche Darmmikrobiom ist in den ersten Lebensjahren besonders formbar. Faktoren wie Geburtsmodus, Stillen, Einführung fester Nahrung und der Einsatz von Antibiotika prägen die Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaft nachhaltig. Ein „gesundes“ Mikrobiom zeichnet sich durch eine hohe Diversität, günstige Funktion und Stoffwechselaktivität aus. Dennoch – so betont Dr. Simon – bietet selbst ein gesundes Mikrobiom keinen vollständigen Schutz vor Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, da hier komplexe genetische und umweltbedingte Faktoren zusammenwirken.
Probiotika, Präbiotika und aktuelle Evidenz
Probiotika, also lebende Mikroorganismen, die gesundheitliche Vorteile bieten können, werden häufig zur Modulation des Mikrobioms diskutiert. Studien zeigen, dass Probiotika bei mangelernährten Kindern in Entwicklungsländern das Wachstum fördern können; in Industrieländern sind die Effekte weniger eindeutig. Eine Metaanalyse bei übergewichtigen oder adipösen Kindern liefert Hinweise darauf, dass Probiotika die Lipid- und Entzündungsmarker beeinflussen können – etwa LDL, HDL, Adiponektin, Leptin oder TNF-α –, ohne jedoch zwingend eine signifikante Gewichtsabnahme zu bewirken. Eine prospektive Kohortenstudie zeigte, dass Kinder im Alter von 0–3 Jahren, die Probiotika mit bestimmten Stämmen erhielten (z. B. Bifidobacterium longum subsp. infantis R0033, Bifidobacterium bifidum R0071, Lactobacillus helveticus R0052), ein reduziertes Risiko für Übergewicht beziehungsweise Adipositas im Vorschulalter hatten.
Mechanismen und neue Entwicklungen
Mechanistische Studien belegen, dass mikrobielle Metaboliten – etwa kurzkettige Fettsäuren, Aminosäure-Derivate oder Tryptophan-Metaboliten – auf enteroendokrine Zellen und das zentrale Nervensystem wirken und so Appetit-regulierende Hormone wie GLP-1, PYY, Ghrelin und Leptin beeinflussen können. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass Veränderungen im Mikrobiom mit Hunger- und Sättigungssignalen verknüpft sind. Bei Kindern mit Übergewicht finden sich häufiger eine geringere Diversität des Mikrobioms und spezifische Veränderungen, etwa im Verhältnis Firmicutes zu Bacteroidetes oder eine reduzierte Akkermansia muciniphila-Abundanz.
Auch Ernährung, insbesondere die Aufnahme von Ballaststoffen und die Gabe von Prä- oder Probiotika, beeinflusst das Mikrobiom und die Appetitregulation. So konnte in Studien gezeigt werden, dass eine Präbiotikagabe (z. B. Inulin) über 16 Wochen bei Kindern mit Übergewicht subjektive Appetitbewertungen verbesserte und die Spiegel von Ghrelin sowie Adiponektin beeinflusste.
Chancen, Grenzen und offene Fragen
Das Mikrobiom bietet somit einen zusätzlichen Ansatzpunkt neben Ernährung und Bewegung in der Prävention von Übergewicht und metabolischen Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes. Frühkindliche Programme zur „gesunden Ernährung“ gewinnen durch diesen biologischen Ansatz noch an Bedeutung. Allerdings bleibt die Evidenzlage begrenzt: Viele Studien sind beobachtend oder basieren auf Tiermodellen, und es fehlt an robusten, lang angelegten randomisierten Studien bei Kindern. Zudem ist nicht klar, welche Probiotika-Stämme, Dosierungen und Anwendungszeiträume bei Kindern am wirksamsten sind. Auch die individuelle Variabilität des Mikrobioms und die langfristige Sicherheit entsprechender Interventionen bleiben offene Fragen.
Praktische Empfehlungen für Familien
Für Eltern und Kinder lassen sich dennoch praxisnahe Empfehlungen ableiten. Eine ballaststoffreiche Ernährung mit viel Gemüse, Vollkorn und Hülsenfrüchten fördert ein günstiges Mikrobiom und unterstützt damit indirekt die Appetit- und Gewichtskontrolle. Probiotika sollten bei Kindern nur nach Rücksprache mit Kinder- oder Ernährungsmedizin gezielt eingesetzt werden. Frühkindliche Einflüsse wie Stillen, die schonende Einführung fester Nahrung und der Verzicht auf unnötige Antibiotika können das Mikrobiom günstig beeinflussen. Eltern sollten sich jedoch nicht allein auf Mikrobiom-Produkte verlassen, sondern bewährte Maßnahmen wie regelmäßige Mahlzeiten, altersgerechte Portionen, Bewegung und einen gesunden Schlaf- und Essrhythmus nicht vernachlässigen.
Gesundheitspolitische Forderungen der DDG
Aus Sicht der Deutschen Diabetes Gesellschaft ergeben sich folgende gesundheitspolitische Forderungen:
- Mehr Fördermittel für Forschung zum kindlichen Mikrobiom, insbesondere für Langzeit-Interventionsstudien mit Fokus auf Appetit- und Essverhalten bei Kindern
- Ausbau von Bildungs- und Öffentlichkeitskampagnen, die die Bedeutung einer mikrobiombewussten Ernährung vermitteln
- Integration von Mikrobiom-Aspekten in Leitlinien zur kindlichen Ernährung und Prävention von Stoffwechselerkrankungen – etwa in Schul- und Kita-Programmen
- Strengere Regulierung und Qualitätskontrolle von Probiotika, insbesondere bei Produkten, die für Kinder mit Appetit- oder Gewichtsziel vermarktet werden
- Förderung eines interdisziplinären Ansatzes zwischen Pädiatrie, Ernährungsmedizin, Mikrobiomforschung, Psychologie und Public Health
Fazit
Das Darmmikrobiom ist ein vielversprechender Ansatz, um Appetit- und Essverhalten bei Kindern besser zu verstehen und potenziell zu beeinflussen – insbesondere im Rahmen der Prävention von Adipositas und Stoffwechselerkrankungen. Probiotika und Präbiotika können dabei Teil eines umfassenden Präventionskonzepts sein, sollten jedoch nicht als alleinige Lösung betrachtet werden. Für die diabetologische Praxis gilt: Die Modulation des Mikrobioms kann eine wertvolle Ergänzung zu etablierten Maßnahmen darstellen, ersetzt aber nicht die klassischen Säulen einer gesunden Lebensweis
Quelle: Pressemappe Vorab-Pressekonferenz der 19. Diabetes Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Statement von Jun.-Prof. Dr. med. Marie-Christine Simon, 28. Oktober 2025, Seiten 11–14.
Literatur:
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