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Experten-Interview: Wunddiagnostik interdisziplinär denken

Experten-Interview: Wunddiagnostik interdisziplinär denken

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mgo medizin Redaktion

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Als engagierter Wissenschaftler und Kliniker setzt sich Prof. Dr. Joachim Dissemond für eine verbesserte, interdisziplinäre Wundversorgung ein.

Prof. Dr. Joachim Dissemond ist einer der führenden Experten für die Behandlung von Menschen mit chronischen Wunden in Deutschland. Wir sprachen mit ihm über die Möglichkeiten einer verbesserten, interdisziplinären Wundversorgung.

Sie engagieren sich intensiv für eine standardisierte Wunddiagnostik.  Warum ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit – etwa zwischen Diabetologen, Angiologen, Gefäßchirurgen und Dermatologen – aus Ihrer Sicht so entscheidend?

Prof. Joachim Dissemond: „Jede Fachdisziplin hat bei den Patienten mit chronischen Wunden eine andere Expertise bei der Beurteilung des Krankheitsbildes. So erkennt beispielsweise der Diabetologe Stoffwechselprobleme, der Angiologe Durchblutungsstörungen und der Dermatologe Hautveränderungen meist deutlich differenzierter. Aber es ist die Kombination dieser Perspektiven, die zur richtigen Diagnose führt. Deshalb ist der Austausch so wichtig – auch, um unnötige Verzögerungen bei der Behandlung zu vermeiden. Eine rechtzeitige Überweisung, eine abgestimmte Kommunikation und die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, sind entscheidend für den Therapieerfolg.“

Welche typischen Fehler beobachten Sie in der Praxis bei der Diagnose und Therapie – etwa bei diabetischem Ulcus cruris?

Prof. Joachim Dissemond: „Ein häufiger Fehler ist, dass nur die Wunde behandelt wird – nicht aber die zugrunde liegende Ursache. Wir sehen Patienten, die seit Jahren mit der falschen Diagnose oder Therapie leben. Oft wird das Ulcus einfach dokumentiert und lokal versorgt, aber es fehlt eine gründliche Ursachenklärung: Besteht eine relevante arterielle Durchblutungsstörung? Liegt eine Polyneuropathie vor? Besteht eine Mykose? In solchen Fällen braucht es eine interdisziplinäre Diagnostik – und auch neue Ansätze, etwa KI-gestützte Wunddiagnostik, die wir derzeit mitentwickeln.“

Sie betonen die Unterscheidung zwischen Entzündung und Infektion. Warum ist das in der Wundversorgung so relevant – gerade im Hinblick auf Antibiotika?

Prof. Joachim Dissemond: „Weil Antibiotika nur bei bakteriellen Infektionen sinnvoll sind – nicht bei jeder Entzündungsreaktion. Wunden durch (auto-)inflammatorische Ursachen wie Vaskulitis oder Pyoderma gangraenosum profitieren nicht von Antibiotika. Viele chronische Wunden sind zudem lediglich kolonisiert, aber nicht infiziert. In solchen Fällen helfen bereits antiseptische Maßnahmen und adäquate Wundreinigung. Wenn sich nach spätestens zwei Wochen keine Besserung zeigt, sollte die Ursache neu bewertet und die Behandlungsstrategie kritisch überdacht werden. Hier kann dann beispielsweise überlegt werden, ob eine Biopsie sinnvoll sein könnte.“

Wie kann die Rolle der Diabetologie in der Wundversorgung gestärkt werden?

Prof. Joachim Dissemond: „Diabetologen sind ein wesentlicher Bestandteil der interdisziplinären Versorgung der Menschen mit chronischen Wunden. Auch wenn nicht alle chronischen Wunden direkte Folge des Diabetes sind, so ist Diabetes oft doch ein sehr relevanter Kofaktor. Folgeerkrankungen wie Polyneuropathie sowie Mikro- und Makroangiopathien sind hier sehr wichtige Aspekte.“

Wie sieht aus Ihrer Sicht eine optimierte Wundversorgung aus?

Prof. Joachim Dissemond: „Ich wünsche mir für die Zukunft die Etablierung von deutlich mehr Partnern mit interdisziplinären Wundzentren oder zumindest regelmäßigen Boards, in denen komplexe Fälle gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Dermatologie, Gefäßchirurgie und Diabetologie sowie mit geschultem Pflegepersonal besprochen und gemeinsam behandelt werden. So könnten wir unsere Expertise bündeln und individuelle, ganzheitliche Behandlungsstrategien entwickeln. Der Schlüssel zum Erfolg ist die interdisziplinäre und interprofessionelle Diagnostik und Therapie. Wir sollten nicht nebeneinander arbeiten, sondern miteinander.“

Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten, strukturellen Hürden?

Prof. Joachim Dissemond: „In der Klinik funktioniert die Zusammenarbeit meist besser, weil Strukturen vor Ort etabliert sind. Im ambulanten Bereich ist die Koordination deutlich schwieriger. Es fehlt oft eine zentrale Stelle, die die Patientenlotsen-Funktion übernimmt. Wenn alle Fachgruppen ihre Stärken einbringen, kann man mehr erreichen, als wenn jeder für sich allein arbeitet.“

Was zeichnet Ihr Zentrum in Essen insbesondere aus?

Prof. Joachim Dissemond: „Das Wundzentrum der Universitätsklinik Essen ist derzeit das einzige in Deutschland, das von drei Fachgesellschaften – der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Angiologie – im Rahmen von Wundsiegel zertifiziert wurde. Diese Auszeichnung bestätigt unsere strukturierte, interdisziplinäre und qualitätsgesicherte Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden. Unser Ziel ist es, nicht nur Symptome zu behandeln, sondern durch fundierte Diagnostik und Zusammenarbeit Komplikationen zu vermeiden und die Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig zu verbessern.“

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Wundversorgung – z. B. bezüglich Kommunikation und Weiterbildung?

Prof. Joachim Dissemond: „Eine effektive Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden erfordert die enge Zusammenarbeit aller beteiligten Berufsgruppen. Jeder bringt eine eigene Perspektive mit – sei es aus der ärztlichen, pflegerischen oder therapeutischen Sicht. Pflegekräfte sollten als gleichwertige Partner mit geschultem Blick für Veränderungen am Patienten eingebunden sein. Gute Wundversorgung lebt vom Miteinander – wenn alle Berufsgruppen voneinander lernen und gemeinsam Verantwortung übernehmen, profitieren am Ende die Patientinnen und Patienten.

Denn eine gute Wundversorgung beginnt mit einer präzisen Diagnose und benötigt klare Strukturen, fachübergreifende Kommunikation und ein gemeinsames Ziel: den Menschen im Mittelpunkt. Genau dafür stehen wir hier in Essen.“

Das Interview führte Dr. Veronica Bierling

Über den Experten

Prof. Dr. Joachim Dissemond
Facharzt für Dermatologie und Venerologie
Oberarzt an der Klinik für Dermatologie der Universitätsmedizin Essen
Website: www.uk-essen.de/klinik/dermatologie
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/joachim-dissemond

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Experten-Interview mit Prof. Dr. Sonja Ständer

Bilderquelle: © susann_bargas_gomez-7

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