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Sexualität und geschlechtliche Vielfalt als Teil ganzheitlicher Versorgung: Let’s talk about sex

Sexualität und geschlechtliche Vielfalt als Teil ganzheitlicher Versorgung: Let’s talk about sex

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mgo medizin

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5 MIN

Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Das gesamte Praxisteam sollte mit Patient*innen über Sexualität kommunizieren können.

Hausärztinnen sind für viele Patientinnen zentrale Ansprechpersonen bei allen Fragen rund um Gesundheit und Krankheit. Im Rahmen der ganzheitlichen Betreuung durch die Primärversorgerinnen bedeutet dies, dass nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch psychische, soziale und eben auch sexuelle Aspekte berücksichtigt werden. In vielen Praxen sind die Medizinischen Fachangestellten (MFAs) diejenigen, die den ersten und manchmal auch den längeren Kontakt zu Patientinnen haben. Mit ihnen sind oftmals niedrigschwelliger Gespräche in unterschiedlichen Settings möglich:

  • bei der telefonischen Anmeldung,
  • im Labor,
  • bei sonstigen Untersuchungen, die durch die MFAs durchgeführt werden.

Ein Grund, warum bei Patientinnen hier die Hürde für Fragen rund um Sexualität niedriger liegt, ist, dass im Ärztin-Patient*in-Gespräch die „Hierarchie“ als ein Hindernis für ein Gespräch auf Augenhöhe empfunden werden kann. Daher ist es wichtig, dass das gesamte Praxisteam auch im Themenkomplex Sexualität kompetent und einfühlsam kommunizieren kann. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche im Praxisalltag eröffnen dabei jeweils eigene Zugänge und bringen unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen mit sich.

Warum sollte in Praxen über Sexualität gesprochen werden?

Sexualität beeinflusst bei vielen Menschen die Lebensqualität und deren psychische Gesundheit. Sie ist eng mit Selbstwahrnehmung, Selbstbild, Beziehung und emotionalem Gleichgewicht verbunden. Erkrankungen und Medikamente können sexuelle Funktionen beeinflussen, Störungen sexueller Funktionen können weitere Erkrankungen hervorrufen: So können Depressionen zu einem Libidoverlust oder zu Erektionsstörungen und umgekehrt ein Libidoverlust oder Erektionsstörungen zu Depressionen führen.

Auch bietet sich bei einem Gespräch über Sexualität eine gute Gelegenheit, mit Patientinnen Informationen zum Thema Prävention, sexuell übertragbare Krankheiten oder Verhütung zu teilen. Wenn MFAs in der Lage sind, offen und respektvoll über Sexualität zu sprechen, können sie Patientinnen niederschwellig dazu motivieren, mit ihren Hausärztinnen über Beschwerden, Probleme, Sorgen und Ängste zu sprechen. Eine offene Kommunikation über Sexualität fördert auch das Vertrauen zwischen Patientinnen und medizinischem Personal. Patient*innen fühlen sich verstanden und ernst genommen. Wenn MFAs sensibel nachfragen, können sexuelle Gesundheitsprobleme wie Infektionen, sexuelle Dysfunktionen oder psychische Belastungen möglicherweise früher detektiert und therapiert werden.

Geschlechtliche Vielfalt in der Praxis

Zu Sexualität gehört auch Geschlechtlichkeit. Viele trans* und nicht-binäre Menschen erleben in der medizinischen Versorgung wiederkehrende Hürden, Missachtung oder Diskriminierung. Das zeigen auch Studien zu Erfahrungen in der HIV/STI-Beratung: Zwar berichten 58 Prozent der Befragten, dass ihre geschlechtliche Identität sowie ihre sexuelle bzw. romantische Orientierung nicht infrage gestellt wurden.

Doch nur 37 Prozent erlebten eine Sprache, die als wertschätzend und respektvoll wahrgenommen wurde, etwa, indem aktiv nach bevorzugten Begriffen für Körperteile gefragt wurde. Lediglich 32 Prozent wurden beim Erstkontakt nach dem selbstgewählten Namen, Pronomen oder der geschlechtlichen Identität gefragt. Auch Formulare spielen eine Rolle: Wenn Anamnesebögen nur „männlich“ oder „weiblich“ zulassen, signalisiert das: Du bist hier nicht mitgedacht. Solche Erfahrungen wirken sich aus und senken die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen medizinische Angebote erneut wahrnehmen.

Eine geschlechterreflektierte und zugewandte Kommunikation in der Praxis kann dem entgegenwirken. Mögliche Maßnahmen:

  • Patient*innen die Möglichkeit geben, in z. B. Anamnesebögen den selbstgewählten Namen und Pronomen anzugeben und diese konsequent verwenden
  • geschlechterneutrales Aufrufen: statt „Herr Schneider“ und „Frau Aydin“ nur den Nachnamen nennen: Schneider, Aydin
  • geschlechterneutrale Toilettenbeschilderung, etwa: Sitztoilette und Pissoir
  • bei Unsicherheiten offen nachfragen

Wollen Patient*innen über Sexualität sprechen?

Oftmals besteht Unsicherheit, ob Patient*innen überhaupt ein Gespräch zu sexualtitätsbezogenen Fragen wünschen. Mehrere Studien zeichnen da ein eindeutiges Bild:

  • 95% der Befragten finden es normal, von Ärzt*innen zum Sexualleben befragt zu werden.
  • 60% der Befragten finden, dass Ärzt*innen häufiger sexualitätsbezogene Fragen stellen und Probleme rum um Sexualität abklären sollten.
  • 25% haben noch nie mit Ärzt*innen über HIV/STIs gesprochen, würden dies gerne tun

Welche Barrieren können uns begegnen?

Gerade bei diesen Gesprächen können uns Barrieren begegnen, die ein solches Gespräch beeinflussen. Deshalb sollten im Vorfeld verschieden Aspekte geklärt werden:

  • Setting: Bin ich die richtige Person? Besteht ausreichend Diskretion für das Gespräch? Habe ich genügend Zeit? Sind andere Personen (Partnerinnen, Eltern, andere Patientinnen) anwesend?
  • Besteht Unsicherheit bezüglich der Grenzen bei der anderen Person?
  • Hemmt mich ein Altersunterschied gegenüber der Patient*in? Spielt es eine Rolle, dass wir unterschiedliche Geschlechtsidentitäten haben?
  • Gibt es Unterschiede in der Sprachfähigkeit (Vulgär- versus medizinische Sprache)?
  • Bestehen normative Vorstellungen/Vorurteile („darüber spricht man nicht“)?

Tipps für die Praxis: 
Wie kann ich Barrieren überwinden 
und Bereitschaft zeigen?

Gesprächsbereitschaft signalisiere ich nicht nur durch konkrete Fragen zur Sexualität der Patient*innen. Schon mit einfachen Mitteln kann eine offene und wertschätzende Atmosphäre in der Praxis Bereitschaft signalisieren, über Sexualität zu sprechen. So können Sie zum Beispiel Plakate oder Broschüren zu Themen wie sexuell übertragbare Infektionen und Prävention, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt aufhängen oder auslegen. Indem MFAs in der Kommunikation über Sexualität geschult werden, tragen sie dazu bei, eine respektvolle und offene Atmosphäre in der Praxis zu schaffen.

Fazit

Das gilt besonders dann, wenn Praxen geschlechtliche Vielfalt mitdenken. Diskriminierungssensible Kommunikation beginnt schon am Empfangstresen und zieht sich durch alle Abläufe der Praxis. Es ist daher wichtig, MFAs entsprechend zu schulen und in ihrer Rolle zu stärken. Die Deutsche Aidshilfe bietet kostenlose Seminare für Praxisteams und Qualitätszirkel zu diesem Thema an:
https://www.hiv-sti-fortbildung.de/de

Autoren: Charlotte Kunath; Prof. Dr. med. Armin Wunder

Bildquelle: © Nadzeya – stock.adobe.com

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