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Schwerhörigkeit: Warum mehr als die Ohren betroffen sind

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Schwerhörigkeit: Warum mehr als die Ohren betroffen sind

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Auch wenn einer Schwerhörigkeit meist primär eine Funktionseinschränkung im Ohr zugrunde liegt, so hat die Schädigung im Sinnesorgan Ohr auch immer direkte Auswirkungen auf den zentralen Hörprozess und damit auf die Verarbeitung des Gehörten. Schlechtere Wahrnehmung führt zu Kommunikations- und Interaktionsschwierigkeiten und kann Folgeerscheinungen wie soziale Isolation, Depression oder kognitive Einschränkungen bedingen.

Betrachten wir Hörgesundheit aus ganzheitlicher Sicht, so müssen neben den akustischen auch die sozialen und kognitiven Parameter miteinbezogen werden.

Wie ein Hochleistungscomputer

Das menschliche Gehör besteht aus zwei Bereichen: dem Sinnesorgan Ohr und der Hörverarbeitung im Gehirn. Beide sind perfekt aufeinander abgestimmt. Unsere Ohren sind dafür verantwortlich, alle Informationen um uns herum aufzunehmen und zu verstärken. Der anatomische Aufbau nutzt physikalische Größen, um selbst leiseste Inhalte hörbar zu machen und das in einem Frequenzbereich zwischen 20 und 20.000 Hz. Die Hörverarbeitung sortiert und filtert diese Informationen und leitet sie dann an das Hörzentrum im Gehirn weiter, damit wir das, was wir hören, auch verstehen und interpretieren können. Dabei arbeitet unsere Hörverarbeitung wie ein Hochleistungscomputer, um relevante Hörinhalte zu betonen und Irrelevantes auszublenden. Diese Hörfilterfunktion schützt uns vor einer permanenten Überforderung.

Hörverlust ist nicht gleich Hörverlust

Lässt das Hörvermögen nach, sind nicht nur die Ohren betroffen. Auch die Leistungsfähigkeit der Hörverarbeitung lässt stetig nach. Da ein Hörverlust jedoch meist schleichend auftritt, verändert sich die Wahrnehmung der Hörumgebung stetig und das Hörgedächtnis adaptiert sich. Dadurch ist die Veränderung im Hörbild zunächst nicht groß genug, um bemerkt zu werden. Sind zunächst hochfrequente Bereiche vom Hörverlust betroffen, äußert sich die Schwerhörigkeit zudem anders als erwartet: statt alles leiser zu hören, wird im Großteil der Fälle das Hörbild zunächst nur unklar und verschwommen, was durch den Betroffenen oft nicht als Schwerhörigkeit interpretiert wird. Subjektive und objektive Einschätzung einer Hörminderung gehen dadurch gerade zu Beginn der Schwerhörigkeit zum Teil sehr stark auseinander.

Hören als soziale Komponente

Eine bestehende Schwerhörigkeit äußert sich über kurz oder lang durch eine eingeschränkte Wahrnehmung von Hörinhalten, einer verlangsamten Hörfilteraktivität und dadurch einem schlechteren Sprachverstehen. Betroffene können Hintergrundgeräusche zunehmend schlechter ausblenden und dadurch immer schlechter kommunizieren. Doch zwischenmenschliche Gespräche sind elementar für das soziale Zusammensein. Wer gut hört, kann geflüsterte Geheimnisse verstehen, sich in Gruppengespräche einbringen und Ironie von Ernsthaftigkeit unterscheiden. Lässt der Hörsinn nach, ist ebendiese Fähigkeit eingeschränkt und das oft schon dann, wenn die Schwerhörigkeit noch gar nicht offensichtlich ist. In ruhigen Situationen im Zweiergespräch zu verstehen, stellt selbst mit Höreinschränkung keine größere Herausforderung dar. Um in akustisch anspruchsvollen Situationen mit mehreren Gesprächspartnern gut zu verstehen, bedarf es jedoch verschiedener akustischer Fähigkeiten: zum einen müssen alle Sprachinhalte gut wahrnehmbar sein. Zum anderen muss die zentrale Hörfilterfunktion in der Lage sein, Sprache und Hintergrundgeräusche gut zu separieren (Abb. 1). Beide Fähigkeiten leiden im Zuge einer Schwerhörigkeit gleichermaßen. Eine aktive Beteiligung am Gespräch, vor allem in Gruppensituationen und akustisch anspruchsvollen Umgebungen, wird dadurch immer mehr zur Herausforderung. Viele Betroffene ziehen sich infolge ihrer Wahrnehmungsschwierigkeiten immer mehr zurück und reduzieren soziale Kontakte auf ein Mindestmaß. Der Versuch, sich vor Bloßstellung zu bewahren, geht jedoch einher mit einem Verlust an Lebensqualität und gleichzeitig mit einem höheren Risiko, an Depressionen zu erkranken.

Hören und Depression

Menschen mit unbehandeltem Hörverlust beginnen, soziale Aktivitäten zu meiden, da sie mit komplexen Klangumgebungen nicht mehr zurechtkommen. Diese selbstauferlegte Isolation führt über kurz oder lang zu Einsamkeit und kann Depressionen bedingen. Wissenschaftler der Columbia Universität haben bereits vor längerer Zeit gezeigt, dass Menschen, die mit zunehmendem Alter unter Schwerhörigkeit leiden, eine größere Wahrscheinlichkeit haben, an Depressionen zu erkranken. Abhängig vom Grad der Hörminderung ist das Risiko an depressiven Symptomen zu erkranken um bis zu viermal höher als für Menschen mit gutem Gehör. Statistisch erhöht sich das Depressionsrisiko pro 20 dB Hörverlust um das eineinhalbfache. Dieser Zusammenhang erscheint plausibel, da eine nachlassende Hörleistung weitreichende Auswirkungen auf die zwischenmenschliche Kommunikation hat. Betroffene fühlen sich oft nicht in der Lage, Gruppengesprächen ausreichend zu folgen, wodurch es leichter zu Missverständnissen kommt. Das Selbstwertgefühl der Betroffenen wird dadurch immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden, ziehen sich Betroffene stärker zurück und drohen zu vereinsamen. Depressionen können die Folge sein. Eine Lancet-Studie zum Thema Demenz greift diesen Zusammenhang ebenfalls bewusst auf. Demnach gibt es modifizierbare Risikofaktoren für Demenz, die stark mit Höreinschränkungen assoziiert sind. Dazu zählen sowohl soziale Isolation als auch Depressionen. Eine über längere Zeit bestehende Schwerhörigkeit wird dabei mit einem mehr als dreifach höheren Risiko, an Altersdepression zu erkranken, verknüpft.

Hören und Kognition

Die kognitive Leistungsfähigkeit hängt eng mit der Funktionalität des Gehörs zusammen und ihr Zusammenspiel beeinflusst unser tägliches Leben maßgeblich. Eine der wichtigsten Funktionen des Hörens ist die Verarbeitung von Sprache. Die Fähigkeit, gesprochene Worte zu verstehen, erfordert komplexe kognitive Prozesse, einschließlich der Identifikation von Phonemen, der Syntaxanalyse und der Semantik. Studien haben gezeigt, dass die Fähigkeit, Sprache zu verstehen, eng mit kognitiven Fähigkeiten, wie Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit, verbunden ist. Gehen durch einen Hörverlust wichtige akustische Informationen verloren oder werden verzerrt, kann das zu Schwierigkeiten bei der kognitiven Analyse grammatikalischer und inhaltlicher Strukturen führen. In der Folge leiden die sprachliche Kommunikation und das Sprachverständnis immer mehr, je weiter eine Schwerhörigkeit fortschreitet.

Kognitive Hörfilterleistung

Die Fähigkeit, auf relevante akustische Informationen zu achten und irrelevante abzuschirmen, ist entscheidend für effektives Hören und Verstehen. Die kognitive Ressource der Aufmerksamkeit spielt dabei eine zentrale Rolle. Störungen in diesem System können zu Schwierigkeiten beim Zuhören und bei der Kommunikation führen. Leidet die Hörfilterfunktion, zum Beispiel im Zuge einer Schwerhörigkeit, können Betroffene nicht nur schlechter hin-, sondern auch schlechter weghören. In akustisch anspruchsvollen Situationen haben Schwerhörige dadurch weniger den Eindruck, zu wenig zu hören, sondern Nebengeräusche nicht mehr effektiv ausblenden zu können. Wird in diesem Fall die fehlende Verstärkung über eine Hörgerätetechnik ausgeglichen, ohne die Hörverarbeitung ebenfalls zu stimulieren, bleibt das Defizit im Bereich der kognitiven Verarbeitung bestehen. Akustische und kognitive Überforderung ist die Folge und die Akzeptanz für den eigentlich notwendigen Frequenzausgleich sinkt. Das erklärt auch die oft fehlende Versorgung mit Hörgeräten. Diese Problematik kann umgangen werden, wenn im Zuge der Hörgeräteanpassung ein strukturiertes Gehörtraining eingesetzt wird, welches gezielt die Hörfilterfunktion restrukturiert.

Schwerhörigkeit und Demenz

Eine mögliche Erklärung für die physiologischen Zusammenhänge zwischen Hörverlust und kognitiven Einschränkungen basiert auf der so genannten „Deprivationshypothese“, der zufolge ein Hörverlust zu einem kognitiven Abbau und schließlich zu Demenz führen kann. MRT-Aufnahmen deuten darauf hin, dass eine Hörminderung zu beschleunigter Hirnatrophie (Gehirnschwund) führen kann und dadurch die Fähigkeiten des Gehirns beeinträchtigt. Betrachtet man die psychologischen Auswirkungen von demenziellen Erkrankungen und Hörverlust, ist eine Ähnlichkeit zwischen auditiver und kognitiver Beeinträchtigung ebenfalls offensichtlich. Die Symptomatik beider Erkrankungen führt zu einer eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit. Der Hörverlust, weil die Aufnahme akustischer Signale gestört ist, die eingeschränkte Kognition aufgrund einer gestörten Informationsverarbeitung im Gehirn. Beides kann sich auf vielerlei Weise bei Betroffenen bemerkbar machen und zeigt ähnliche Ausprägungen, wie z. B. unzureichendes Reaktionsvermögen, Misstrauen, emotionale Labilität und Konzentrationsschwäche. Nach Angaben einer Lancet-Studie aus dem Jahr 2020 zählt eine Hörminderung zu den zwölf potenziell modifizierbaren Risikofaktoren für Demenz. Neben Schwerhörigkeit spielen unter anderem auch Bluthochdruck, Rauchen und Übergewicht eine wichtige Rolle. Der Bericht schätzt, dass eine Veränderung dieser Risikofaktoren 40 % der Demenzfälle weltweit verhindern oder verzögern könnte. Eine Hörminderung wird dabei als der größte Faktor im Risikominderungsmodell bewertet und macht 20,5 % der veränderbaren Chancen aus. Seinen Hörstatus zu kennen und auf Beeinträchtigungen der Hörfähigkeit so schnell wie möglich Einfluss nehmen zu können, kann sich demnach positiv auf den kognitiven Abbau auswirken. Ein jährlicher Hörtest sollte daher obligatorisch in die allgemeine Gesundheitsvorsorge aufgenommen werden.

Fazit

Schwerhörigkeit kann zwar primär dem auditorischen System zugeschrieben werden, die Auswirkungen einer Hörminderung sind jedoch weitreichend. Neben kognitiven Einschränkungen dürfen auch die psychologischen Folgen nicht außer Acht gelassen werden, die eine unversorgte Schwerhörigkeit mit sich bringen kann. Eine verbesserte Vorsorge im Bereich der Hörgesundheit könnte demnach positivere Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben, als auf den ersten Blick zu erkennen.

Autor: Dr. rer. nat.
Christina Heinisch

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