„Ich kann nicht mehr, bin nur noch fertig, mir wird alles zu viel“ – vielfach und immer häufiger zu hörende Aussagen von Patienten nahezu aller Altersgruppen, Heranwachsende miteingeschlossen. Welche Möglichkeiten bieten sich hier im Bereich der Phytotherapie?
Ängste, Erschöpfung, anhaltende Müdigkeit ohne angemessenen Anlass und Leistungsschwäche sind in der hausärztlichen Praxis ebenso häufige wie unspezifische Klagen. Neben einer potenziell nicht detektieren Grunderkrankung können die Beschwerden auch Ausdruck eines Fatigue-Syndroms, einer atypischen depressiven Phase wie auch eine protrahiert verlaufende Rekonvaleszenz nach operativem Eingriff oder einer schweren Erkrankung sein; das früher wenig beachtete postinfektiöse Syndrom erfährt durch das Post-Vac-Syndrom zunehmend an Bedeutung. Und der Allgemeinarzt gibt sich auf Spurensuche, kann häufig aufgrund der meist langjährigen hausärztlichen Betreuung auf die erlebte Anamnese zurückgreifen. Dass eine Diagnostik unabdingbar ist, ergibt sich mit Hinweis auf maskierte Verläufe, worauf gerade im „Routinebetrieb“ immer wieder selbstkritisch zu reflektieren ist.
Die eingangs genannten Stichworte werden in Leitlinien nur partiell abgebildet. So vermittelt die S3-Leitlinie „Müdigkeit“ der DEGAM einen Handlungsleitfaden, in dessen therapeutischen Mittelpunkt „Verhaltenstherapie oder/und symptomorientierte aktivierende Maßnahmen“ gestellt werden. Zu möglichen pharmakotherapeutischen Ansätzen heißt es: „Bei Müdigkeit allgemein haben medikamentöse Interventionen überwiegend enttäuscht.“ Und weiter: „In einer kleinen Kurzzeitstudie besserte ein Phytopräparat (Baldrian, Hopfen, Jujube) bei primärer Insomnie die Schlafqualität und Tagesmüdigkeit.“ Die genannte Pflanze Jujube, zu Deutsch die Chinesische Dattel, wird in Deutschland nur als Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Weitere phytotherapeutische Ansätze werden in der Leitlinie nicht thematisiert.
Adaptogene – eine unterschätzte Wirkstoffgruppe
Unter Beachtung der diagnostischen Kriterien stehen zur Behandlung der Müdigkeit und assoziierter Symptome mehrere phytotherapeutische Optionen zur Verfügung. Dabei erfährt ein wenig beachteter, wissenschaftlich durchaus belastbarer Ansatz eine bemerkenswerte Bedeutung für die Praxis: die Adaptogene. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Wirkstoffen, die in verschiedenen Pflanzen enthalten sind – das bekannteste Beispiel ist der Ginseng.
Adaptogen wirkende Arzneipflanzen wirken auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Eine Beeinflussung des Systems durch Stressoren und ihre Folgen auf die Homöostase basiert auf der Stress-Theorie, die vom österreichischen Forscher Hans Selye entwickelt wurde. Demnach provozieren Phasen erhöhter psychischer und physischer Anforderungen eine unphysiologische Ausschüttung von Hormonen. Bei persistierenden Stressoren entwickelt sich eine Symptomatik, die Teil der primär nicht erklärbaren Müdigkeit ist; in der Folge zeigen sich weitere, oft unspezifische psychische und somatische Symptome, wie es das diagnostische Vorgehen der zitierten Leitlinie widerspiegelt.
Adaptogene bewirken eine erhöhte „Widerstandskraft“ gegenüber biologischen, physikalischen und chemischen Belastungen, konsekutiv wird die Anpassungsfähigkeit des Organismus unterstützt, was dem Prinzip der Salutogenese folgt.
Pflanzliche Adaptogene
Neben Ginseng sind weitere adaptogen wirkende Arzneipflanzen bekannt. Dazu zählen die Taigawurzel sowie die Rosenwurz, die in den vergangenen Jahren zunehmend auch im Mittelpunkt der Phyto-Forschung steht, was sich in der wachsenden Zahl an Publikationen zeigt.
Insofern konnten für die in der Praxis beobachteten Wirkungen der Rosenwurz verifizierende Daten erhoben werden. So besserten sich psychometrisch erfasste Symptome wie „Beeinträchtigung der Konzentration und Erinnerung“, „Unwohlsein nach Tätigkeiten“ und „nicht erholsamer Schlaf“ sowie „Stress-assoziierte Angstgefühle“ und „Sorge vor Überforderung“. Auch gibt es Erfahrungen und studienbasierte Daten zur Behandlung des diagnostisch oft schwer fassbaren Burnout-Syndroms.
Bereits 2012 werden im Berichtsheft 120 der Health Technology Assesment (HTA) zur „Therapie des Burnout-Syndroms“ die Adaptogene als potenzieller Therapieansatz thematisiert und dabei die belastbare Datenlage zu Rosenwurz gewürdigt. Die Veröffentlichung einer S3-Leitlinie zur „Prävention des Burnouts“ ist für Anfang 2026 vorgemerkt und will laut Ankündigung fächerübergreifende Präventionsansätze in den Mittelpunkt stellen.
Aus Praxissicht sind adaptogen wirkende Arzneipflanzen als Teil des multi-modalen Behandlungskonzepts nicht nur bei dem Leitsymptom Müdigkeit eine unterschätzte Option. Auch beim Post-Vac-Syndrom und chronischem Fatigue-Syndrom (CFS) sprechen zumindest die Real-World-Daten für einen längerfristigen Behandlungsversuch.
Neben Pflanzen gehören zur Gruppe der Adaptogene auch „Heilpilze“, wie der in der Selbstmedikation häufig genannte Igelstachelbart, der als Wundparasit an älteren Laubbäumen wächst. Bemerkenswerte Daten dazu stammen überwiegend aus der chinesischen Forschung; therapeutisch steht er nur als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) zur Verfügung, nicht jedoch als standardisiertes Arzneimittel.
Vergleichbares trifft auch auf das von Patienten favorisierte Ashwaganda zu, die als „Königin der ayurvedischen Kräuter“ gilt und auch als Indischer Ginseng bezeichnet wird. Trotz bemerkenswerter klinischer Daten ist die Pflanze nur als pflanzliches NEM erhältlich.
Darm-Hirn-Achse als weiterer Therapieschlüssel
In der Tradition pflanzlicher Arzneimittel findet sich ein weiterer Ansatz zur Behandlung von unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit, nachlassende psychosomatische Leistungsfähigkeit und reduziertes Allgemeinbefinden: Magen-Darm-Therapeutika auf Basis von Bitterstoffen. Im Kontext der zunehmenden Erkenntnisse über die Darm-Hirn-Achse und der Bedeutung des Mikrobioms wird dieser traditionelle Ansatz der Phytotherapie auch wissenschaftlich nachvollziehbar und verbleibt nicht im Anekdotischen.
Bekannte Beispiele sind Enzian, Schafgarbe, Tausendgüldenkraut und Wermut, die aufgrund des bitteren Geschmacks als Bitterstoff-haltige Arzneipflanzen (lat. Amara) zusammengefasst werden. Die unter der Bezeichnung „Amara-Tropfen“ eingesetzten Arzneimittel führen zu einer Stimulation der Speichel- und Magensaftsekretion.
Bitterstoffe haben eine empirisch belegte Wirkung auf das Darm-assoziierte Immunsystem, was durch experimentelle Daten belegt ist und zugleich die appetitanregende und vegetativ regulierende Wirkung der Bitterstoffe erklären kann. Weiterführende Hinweise zum intestinalen Mikrobiom finden sich im Beitrag zur „Phytotherapie gastrointestinaler Erkrankungen“ (Der Allgemeinarzt 14/2024).
Bei dieser Thematik ist auch auf das Frailty-Syndrom hinzuweisen, welches unter anderem durch Schwäche und Müdigkeit klinisch imponiert. Wenngleich die Immunseneszenz das pathophysiologische Korrelat darstellt, lassen sich mit dem phytotherapeutischen Ansatz der Bitterstoffe zumal in der geriatrischen Versorgung oft erstaunliche mentale und somatische Verbesserungen erzielen.
Leitlinie Angsstörungen
In der 2021 veröffentlichten Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen der DGPM (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie) ist auch die DEGAM mitbeteiligt. Relativ ausführlich wird die Phytotherapie thematisiert, insbesondere zu dem standardisierten Lavendelöl-Spezialextrakt Stellung genommen. Für die Praxis wenig zielführend ist die Aussage, wonach „belastbare Theorien zum Wirkmechanismus fehlen“ verbunden mit dem Hinweis, dass „Referenzleitlinien den Lavendelextrakt nicht geprüft haben.“
Neben der traditionellen Anwendung von Lavendelöl in der Aromatherapie wird der genannte Lavendelöl-Extrakt systemisch zur Behandlung von „Unruhezuständen bei ängstlicher Verstimmung“ eingesetzt; bei diesem Indikationsanspruch ist die Wirksamkeit belegt. Weitere, für die Praxis relevante Anwendungsgebiete sind syndromale und subsyndromale Angststörungen. Solches betrifft auch somatische Komorbiditäten von Angsterkrankungen. Die Dosierung liegt bei einmal täglich
1 Kapsel (entsprechend 80mg Lavendelöl;) je nach Symptomatik kann die Einnahme am Morgen oder am Abend zum Essen erfolgen, wodurch das Aufstoßen des Lavendelgeruchs vermindert wird. Wechselwirkung mit chemisch-synthetischen Psychopharmaka sind nicht bekannt.
Kamille und Passionsblume
In der S3-Leitlinie wird auch eine Studie zur Behandlung der Angststörung mit einem Kamillenextrakt zitiert, der „geringfügig wirksamer als Placebo war“. Wenngleich die Kamille überwiegend bei nervösen Verdauungsbeschwerden als Tee in der Selbstmedikation eingesetzt wird, besitzt der standardisierte Pflanzenextrakt ausgeprägte spasmolytische und analgetische sowie sedierende Wirkungen.
Eine Anwendung bei Ängsten mit gastrointestinaler Symptomatik ist bewährt: 1 Tasse warmes Wasser wird mit 30 Tropfen Kamillenextrakt versetzt und kann dreimal täglich 1–2 Wochen lang getrunken werden, ein Dauergebrauch ist nicht sinnvoll.
Einen weiteren Therapieansatz bietet die Passionsblume aufgrund ihrer anxiolytisch, leicht sedierenden und motilitätshemmenden Wirkung bei angstbesetzten Unruhezuständen mit somatischen Korrelaten. Längerfristig eingesetzt – 2–3 Monate lang – lassen sich emotional bedingte Beschwerden wie Erschöpfung, Konzentrationsschwäche, Schwitzen und Übelkeit mit einem Passionsblumenextrakt bessern; die Passionsblume ist häufig Bestandteil von pflanzlichen Kombinationspräparaten, die auch Baldrian, Johanniskraut und Melisse enthalten und ebenfalls bei den genannten Symptomen indiziert sind.
Summarisch wird in der S3-Leitlinie „Angststörungen“ festgestellt, wonach „Phytotherapeutika (wie Johanniskraut oder Baldrian) in großem Umfang bei Angsterkrankungen off-label verordnet werden, ohne dass wissenschaftliche Nachweise vorliegen“, wobei als Beleg auf eine Publikation aus dem Jahr 1995 verwiesen wird.
Des Weiteren heißt es in der Leitlinie: „Die Verschreibung dieser Präparate zu Lasten der Kostenträger verursacht erhebliche zusätzliche Kosten im Gesundheitssystem“, ohne dass eine korrespondierende Literaturstelle zitiert wird.
Verordnungsfähigkeit pflanzlicher Arzneimittel
Bis auf wenige Ausnahmen dürfen pflanzliche Arzneimittel nicht zu Lasten der GKV verordnet werden, was beispielsweise Baldrian enthaltende Mono- und Kombinationspräparate betrifft.
Eine der wenigen GKV verordnungsfähigen Phyto-Arzneimittel sind zugelassene Johanniskraut-Extrakt-Präparate mit dem Indikationsanspruch und belegter Wirksamkeit bei „leichten bis mittelschweren depressiven Episoden“.
Eine prinzipielle Ausnahme sind Kinder bis zum 12. Lebensjahr und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen, denen pflanzliche Arzneimittel zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen.
Autor: Dr. med. Markus Wiesenauer
Bildquelle:© Orlando Florin Rosu – stock.adobe.com



