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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Kasuistik einer 74-jährigen Patientin mit Multimorbidität, die sich nach Cholezystektomie erstmals in der Praxis vorstellte und im Erstgespräch von riskanter Selbstmedikation berichtete.

Multimorbidität und die häufig damit assoziierte Multimedikation nehmen mit dem Alter zu und damit in unserer älter werdenden Bevölkerung, die in der hausärztlichen Praxis versorgt wird. Komplexe Medikationspläne, die häufig über einen längeren Zeitraum und in Folge zahlreicher mitbehandelnder Fachrichtungen entstanden sind, bergen potenzielle Risiken für die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) und erhöhen die Therapiebelastung, die manche der Patient:innen überfordert2. Wenn bei Patient:innen mit Multimedikation relevante Gesundheitsprobleme unbehandelt bleiben, steigt die Gefahr, dass sie sich selbst die von ihnen benötigten Medikamente kaufen (OTC-Medikamente) – oft ohne Wissen ihrer Hausärzt:innen. Daten über OTC sind lückenhaft. Nach Schätzungen wurden 2014 in Deutschland pro Kopf etwa 9,3 Packungseinheiten OTC-Medikamente abgegeben, wobei im selben Jahr durchschnittlich 8,7 Medikamente pro Kopf ärztlich verordnet wurden.3,4


Da auch OTC-Medikamente ein AMTS-Risiko darstellen, insbesondere bei Multimedikation, wird in der S3-Leitlinie Multimedikation ein sogenannter Brown Bag Review* zur Erfassung aller von der/dem Patient:in eingenommenen Medikamente empfohlen2 Da die Einnahme von OTC-Medikamenten oft mit Verhalten und Einstellungen verbunden ist, ist es häufig nicht damit getan, Patient:innen einfach von der Einnahme abzuraten. Es läuft vielmehr darauf hinaus, die OTC-Selbstmedikation (vorübergehend) im ohnehin schon komplexen Gesamttherapiekonzept zu berücksichtigen und auf eine Verhaltensänderung hinzuwirken. Um für den dafür anstehenden Multi-Konsultationsprozess eine Leitschnur zu haben, wurden die sogenannten Ariadne-Behandlungsprinzipien als Aide-Mémoire entwickelt.
Ariadne, die Tochter des kretischen Königs Minos, half Theseus mit Schwert und Wollknäuel, um den schrecklichen Minotaurus zu besiegen und anschließend den Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Im Mittelpunkt der Ariadne-Prinzipien steht die Vereinbarung realistischer Therapieziele zwischen Hausärzt:innen und Patient:innen, welche die Grundlage für die individualisierte Versorgung bilden. Dies folgt einer Interaktionsbewertung, in der mögliche Zusammenhänge zwischen den Gesundheitsproblemen der Patient:innen, ihren Therapien, ihrer körperlichen und seelischen Verfassung und ihrem Lebensumfeld beurteilt wurden, sowie einer Priorisierung von Gesundheitsproblemen und Präferenzen für oder gegen Behandlungen der Patient:innen.


Fallbericht: Marlies T., 74 Jahre

Die Patientin stellte sich erstmals in unserer Praxis vor, nachdem sie vor einigen Monaten in unseren Stadtteil umgezogen und am Vortag aus der Klinik entlassen worden war. Dort war eine elektive Cholezystektomie durchgeführt worden. Im Rahmen des Aufenthaltes waren erhöhte Blutdruckwerte um 170 mmHg mehrfach gemessen worden, außerdem ein TSH-Wert von 4,5 mU/l. Daraufhin erhielt sie zusätzlich zu ihrer bestehenden Medikation Amlodipin 10 mg und die L-Thyroxin-Dosis wurde von 88 mcg auf 125 mcg gesteigert. In diesem Kontext wurde ihr Statin von Simvastatin auf Atorvastatin umgestellt. An Vorerkrankungen sind bei der Patientin außer der arteriellen Hypertonie und der Hypothyreose noch eine KHK bekannt. Im Entlassbrief wurde folgende Medikation empfohlen:
Ramipril 10 mg ½ – 0 – 0
ASS 100 mg 1 – 0 – 0
Amlodipin 10 mg 1 – 0 – 0
Atorvastatin 20 mg 0 – 0 – 1 (neu, vorher Simvastatin 40 mg abends)
Pantoprazol 20 mg 0 – 0 – 1 (neu)
L-Thyroxin 125 μg 1 – 0 – 0 (gesteigert von 88 μg)
Anamnese in der Praxis
Bei der Erstanamnese gab die Patientin, der es subjektiv sehr gut ging, an, neben der regelmäßigen Einnahme ihrer Dauermedikamente noch Johanniskraut 900 mg tgl. in der dunklen Jahreszeit wegen Stimmungsschwankungen und außerdem „gelegentlich“, auf näheres Nachfragen ca. 6 – 8 x pro Woche, Diclofenac 25 mg wegen Gelenkbeschwerden einzunehmen. Deshalb würde sie auch tgl. beide Kniegelenke mit Diclofenac-Gel einreiben.

Befund

Die körperliche Untersuchung zeigte an Herz und Lunge keine Auffälligkeiten, der Blutdruck betrug 138/82 mmHg, die Herzfrequenz lag bei 76 / min. Das Abdomen war bei Z. n. endoskopischer Cholezystektomie mit reizlosen Wundverhältnissen unauffällig.
Prozedere –worauf sollte geachtet ­werden?
Mit der Patientin wurde besprochen, die Blutdruckmedikation wie in der Klinik empfohlen- beizubehalten. Sie wollte zunächst ihr Simvastatin noch weiternehmen und bat nun um eine Verordnung von Pantoprazol und L-Thyroxin 125 μg.
Hausärztliche Reflexion 
des Vorgehens bei Marlies T.
Cave: Amlodipin und Simvastatin: Aufgrund der Wechselwirkungen von Amlodipin und Simvastatin konnte die Patientin überzeugt werden, zukünftig Atorvastatin einzunehmen. (Siehe Infokasten)
Da für das Pantoprazol keine Indikation bestand, wurde mit der Patientin vereinbart, das Medikament zu pausieren.
Die Erhöhung des L-Thyroxins erfolgte, weil im Rahmen der Laboruntersuchungen ein TSH-Wert von 4,8 mU/l festgestellt worden war. In Abhängigkeit vom Alter gelten für die hausärztliche Praxis bei Patientinnen und Patienten im Alter von 70 – 80 Jahren TSH-Werte > 5,0 mU/l als erhöht5. Mithin ist eine Steigerung der L-Thyroxin-Dosis nicht notwendig. Deshalb wurde mit der Patientin besprochen, die alte Dosis beizubehalten.
Selbstmedikation mit Johanniskraut: Durch die gleichzeitige Einnahme von L-Thyroxin und Johanniskraut kann es, bedingt durch die enzyminduzierende Wirkung, zu einer erhöhten hepatischen Clearance von L-Thyroxin kommen und damit zu einer Reduktion der Serumkonzentration. Dies sollte insbesondere auch dann beachtet werden, wenn das Johanniskraut über einen längeren Zeitraum eingenommen und dann pausiert oder abgesetzt wird.6 Mit der Patientin wurde vereinbart, im Falle einer Pause bzw. eines Absetzens den TSH-Wert nach acht Wochen zu kontrollieren.
Selbstmedikation mit Diclofenac: Mögliche Auswirkungen von Diclofenac auf die arterielle Hypertonie waren der Patientin nicht bekannt. Überrascht war Sie auch, als sie hörte, dass Diclofenac in den Kläranlagen nur geringfügig reduziert wird7,8. Bei topischer Anwendung gelangt es durch das Waschen der Hände oder durch das Duschen großflächig behandelter Areale direkt ins Abwasser.

Bei der Besprechung dieser Problematik überlegten wir gemeinsam, welche Alternativen zu einer Schmerzreduktion beitragen könnten. Da sie, wie eingangs erwähnt, neu in unserem Stadtviertel wohnte und sich ein kleines soziales Netz aufbauen wollte, besprachen wir die Möglichkeiten, die von den Sportvereinen im Rahmen von Seniorengymnastik etc. angeboten werden. Die Patientin zeigte sich offen für diese Aktivitäten und wurde von uns mit entsprechenden Adressen versorgt.
Diskussion der hausärztlichen Entscheidungsfindung Interaktionsbewertung
Um das zur Hypertoniebehandlung gewählte Amlodipin einsetzen zu können, wurde bereits während des Krankenhausaufenthalts das Interaktionspotenzial zu Simvastatin erkannt und vermieden, indem die Patientin auf das nicht interagierende Atorvastatin umgesetzt wurde. Die systematische Überprüfung der Gesamtmedikation inkl. Selbstmedikation deckte weitere Interaktionspotenziale auf (Diclofenac, welches die Wirksamkeit von ACE-Hemmern in der Hypertoniebehandlung reduziert; Johanniskraut, welches die L-Thyroxinsubstitution bei Hypothyreose schlecht steuerbar macht) sowie ein Medikament, welches nicht (mehr) indiziert war (Pantoprazol, vermutlich als perioperative Stress-ulkusprophylaxe verordnet).
Patientenpräferenzen/Priorisierung
Der Wunsch der Patientin, ihr „bewährtes“ Simvastatin weiternehmen zu wollen, liefert einen ersten Hinweis darauf, dass sie auf die Wirkung ihrer bisherigen Medikamente vertraut und nur zögerlich zu Veränderungen bereit ist, wie etwa zum Absetzen oder Umsetzen. Zudem sollte sie bei ihrer Integration in eine neue Wohnumgebung unterstützt werden, indem bewegungseinschränkende Gesundheitsprobleme, wie Schmerzen reduziert werden, um soziale Funktionalität, Autonomie und Teilhabe zu stärken.

Individualisierte Therapie

Da zur Patientin erst eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden muss und schwerwiegende Gesundheitsprobleme aufgrund bestehender Interaktionspotenziale wenig wahrscheinlich sind, ist ein schrittweises Vorgehen zur Medikationsoptimierung sinnvoll. Die Vermeidung der hochprioritären Simvastatin-Amlodipin-Interaktion konnte mit der Patientin ausgehandelt werden und das erst kürzlich verordnete Pantoprazol, an welches sich die Patientin noch nicht gewöhnt hatte, wurde „pausiert“. Das „Pausieren“ von Medikamenten ist ein unterschwelliges Angebot an Patient:innen und erleichtert häufig den Absetzprozess, indem sich Ärzt:in und Patient:in darauf verständigen, zu testen, ob das Medikament noch benötigt wird und Patient:innen dies nicht als „Wegnehmen“ missinterpretieren.
Die gewählte Reihenfolge des Absetzens von Medikamenten bei Marlies T. kann auch als eine Strategie der „low hanging fruits“ aufgefasst werden, bei der unkomplizierte Ziele schnell erreichbar sind und bei Ärzt:in und Patient:in zu einem Erfolgserlebnis führen. Derartige Erfolgserlebnisse sind anerkannte förderliche Faktoren des Absetzens und erleichtern zukünftiges „Deprescribing“ auch in schwierigeren Situationen10. Die Beratung zu körperlicher Aktivität in altersgerechten Sportgruppen ist gleichzeitig ein sinnvoller Ansatz zur Vermeidung der AMTS-Risiken von Diclofenac bei Marlies T, reduziert die pharmakologische Belastung für sie (und die Umwelt) und unterstützt gleichzeitig ihre Präferenz, sich im neuen Wohnviertel einzuleben und soziale Kontakte aufzubauen. In einem weiteren Schritt sollte ein Deprescribing der Johanniskraut-Selbstmedikation mit der Patientin besprochen werden – sequentiell oder in Kombination mit einer Feinjustierung der L-Thyroxin-Substitution anhand der klinischen Symptomatik, da depressive Verstimmung ein Zeichen (klinisch) ungenügender Substitution sein kann.
Bei Marlies T. bleibt dies abzuwarten, bis die Blutdruckeinstellung stabil ist, sie für eine weitere Medikationsänderung bereit ist und aufgrund vorheriger positiver Absetzerfahrungen mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich das Medikament absetzt, ohne erneut damit zu beginnen.10 Der Absetzprozess der Johanniskraut-Selbstmedikation sollte – wie bei verordneten Medikamenten – gut geplant und unter Beobachtung potenzieller Absetzsymptome kommunikativ begleitet werden (s. grauer Kasten).1
Zusammenfassung
Der Fallbericht zeigt deutlich, wie eine gute Information unserer Patientinnen und Patienten unter kritischer Betrachtung der Selbstmedikation zu partizipativ getroffenen Entscheidungen führen kann, die sowohl zu einer Reduktion der Multimedikation als auch zu einer Reduktion von Stoffen, die die Umwelt belasten, beitragen.

Autor:innen: Prof. Dr. Marjan van den Akker, Prof. Dr. 
Christiane Muth, Dr. med. 
Svetlana Puzhko, Prof. Dr. med. 
Armin Wunder

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Bildquelle:© Dulemegapixel – stock.adobe.com

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