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DiGA bei psychischen Erkrankungen

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DiGA bei psychischen Erkrankungen

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Die Zahl an Menschen mit psychischen Störungen übersteigt die Zahl an Therapieplätzen – digitale Angebote, wie die erstattungsfähigen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) können helfen, die Wartezeit zu überbrücken. Auch während einer Therapie bieten sie Behandlern und Behandelten einige Vorteile.

Psychische Störungen sind weit verbreitet und betreffen häufig auch jüngere Menschen.1 Mit der konventionellen Psychotherapie lassen sich nur etwa 25% der Patientinnen und Patienten erreichen.2 Wie Prof. Dr. Christine Knaevelsrud von der Freien Universität Berlin berichtete, steigt der Anteil der Betroffenen, die irgendeine Form der Therapie suchen, erst bei zwei oder mehr komorbiden Störungen auf über 50%.

Den Grund für diese Zurückhaltung untersuchte eine internationale Studie mit Studierenden im ersten Semester.2 Darin gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sie würden ein psychisches Problem lieber alleine lösen (56,4%) oder mit Freunden bzw. Verwandten besprechen (48,0 %).2 Interessanterweise ist laut Knaevelsrud das Bedürfnis nach Autonomie auch der ausschlaggebende Aspekt für die Nutzung von Internet-basierter-Intervention – und nicht etwa, wie häufig angenommen, die Angst vor Stigmatisierung, eingeschränkte Mobilität oder eine große Entfernung zum Therapiezentrum. Folglich könnten digitale Interventionen zwar bei weitem nicht alle, aber zumindest einen Teil der Menschen mit hohem Autonomiebedürfnis erreichen.

Potenziale der DiGAs

Mit Hilfe digitaler Angebote kann sich die Versorgung der Betroffenen verbessern, indem Versorgungslücken geschlossen und die monatelangen Wartezeiten auf einen Psychotherapie-Platz überbrückt werden. Zudem sind niedrigschwellige Angebote möglich, die sich im Rahmen eines gestuften Vorgehens in die psychotherapeutische Behandlung umsetzen lassen. Für die Behandelnden bieten die digitalen Angebote verschiedene Vorteile. So bleibt ihnen mehr Zeit für die eigentliche therapeutische Arbeit, wenn die Patientinnen und Patienten parallel zur Behandlung digitale Angebote nutzen – Protokolle wie etwa das Schmerztagebuch liegen dann beim Termin bereits vor und Übungen werden nicht vergessen, da die Apps automatisch daran erinnern. Dadurch verbessert sich Knaevelsrud zufolge auch die Adhärenz.

Als Zukunftsmusik bezeichnete die Psychologin und psychologische Psychotherapeutin eine maßgeschneiderte Intervention, in der Behandlungselemente anhand persönlicher Symptomprofile entweder durch die Behandelten selbst oder durch die Apps vorgeschlagen werden. Beispielsweise könnte die App eine stressbelastete Situation im Alltag registrieren und eine Entspannungsübung vorschlagen, oder einen kurzen Bipolar-Fragebogen einleiten, wenn sie Abweichungen vom üblichen sozialen Rhythmen oder dem Schlaf bemerkt. Derartige Ansätze werden derzeit erforscht, sind jedoch laut Knaevelsrud noch relativ weit entfernt von der Regelversorgung.

Mehr Selbstbestimmung für Betroffene

Die Anwenderinnen und Anwender profitieren ebenfalls von der Kombination aus persönlichen Kontakten mit den Behandelnden und der Nutzung digitaler Inhalte. Sie können einzelne Module in der Zeit zwischen den Sitzungen bearbeiten und im nächsten persönlichen Gespräch erörtern. Vielen kommt die größere Selbstbestimmtheit sehr entgegen, da sie die digitalen Angebote nach Bedarf und unabhängig von Ort oder Zeitpunkt nutzen können. Auch die Integration von Therapieeinheiten in den Alltag – beispielsweise Entspannungsübungen – kann mit einer digitalen Anleitung besser gelingen.

Aktueller Stand der DiGA-Nutzung

Die „Apps auf Rezept“ kommen langsam in der Versorgung an. Dies geht aus dem dritten Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Inanspruchnahme und

Entwicklung der Versorgung mit DiGA hervor.3 Demnach wurden im Berichtszeitraum vom 01.09.2020 bis 30.09.2023 rund 374.000 DiGAs in Anspruch genommen, die Freischaltquote lag zum Ende des Berichtszeitraums bei ca. 20.000 pro Monat. Damit verdoppelte sich die Inanspruchnahme zwar im Vergleich zum Vorjahr – Knaevelsrud zufolge bleibt sie jedoch deutlich hinter der ursprünglich antizipierten Nachfrage zurück. Nach Meinung der Psychologin entspricht diese Entwicklung jedoch einem gesunden Wachstum. Wie der Bericht zeigte, nutzen Frauen mit 71 % überproportional häufig DiGAs. Zudem sind die Hauptnutzer nicht etwa junge Menschen, sondern weibliche Patientinnen im Alter von 50 bis 60 Jahren.3 Betrachtet man die Inanspruchnahme nach Indikation, machen psychische Erkrankungen rund ein Drittel der Gesamteinlösungen aus, wobei der Frauenanteil 69% beträgt. An zweiter Stelle stehen Stoffwechselerkrankungen mit 19% der Gesamteinlösungen und einem Frauenanteil von 86%. Rund die Hälfte aller verfügbaren DiGAs adressieren psychische Erkrankungen. Hier stehen Hausärztinnen und Hausärzte mit 45 % der Verordnungen an erster Stelle.3

DiGAs für die ‚Psyche‘

Insbesondere für die Indikationen Depression und Angststörung stehen zahlreiche dauerhaft aufgenommene DiGAs zur Verfügung, weitere z.B. für Sucht (Alkohol, Bulimia Nervosa, Binge-Eating), Insomnie oder chronischen Schmerz. Für posttraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung gibt es bislang keine digitalen Angebote. Die im Bereich Psyche am häufigsten verordneten DiGAs sind somnio (Insomnie), deprexis (Depression) und Selfapy Depression.3 Die meisten DiGAs sind modular aufgebaut und ermöglichen die Bearbeitung einzelner Module. In der Regel ist keine therapeutische Begleitung integriert, einzelne DiGAs (v.a. Selfapy und HelloBetter) sehen jedoch eine Minimalkontakt-Intervention nach entsprechenden Modulen vor. Die übliche Verschreibungsdauer umfasst 60 bis 90 Tage, der durchschnittliche Umfang entspricht acht Modulen.

Wirksamkeit

Die Evidenz für Selbstmanagement Interventionen (SMI), zu welchen auch DiGAs zählen (Subgruppe der SMI, die von der GKV vergütet werden), ist laut Knaevelsrud „herausragend“. Metaanalysen zu sämtlichen Störung belegen in der Regel große Effektstärken der SMI. Eine Ausnahme bildet die Therapie des Alkoholmissbrauchs, bei der auch mit normaler face-to-face-Behandlung keine guten Effekte erreicht werden.4 In zahlreichen head-to-head-Studien wurde der Effekt von SMI gegenüber der face-to-face-Behandlung verglichen. Wie ein systematisches Review mit Metaanalyse anhand von 20 Studien und 1418 Teilnehmenden zeigte, erzielte eine über das Internet vermittelte kognitive Verhaltenstherapie gleichwertige Gesamteffekte wie die face-to-face-Behandlung.5 Angesichts der Fülle der Evidenz hält Knaevelsrud digitale Interventionen wie DiGAs für vernünftig und wirksam, rät allerdings von Angeboten aus dem freiem Markt ab.

Gut zu wissen

Seit das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) im Dezember 2019 in Kraft trat, können DiGAs von Ärzten und Psychotherapeuten verordnet und durch die Krankenkasse erstattet werden. Im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM, https://diga.bfarm.de/de) sind die vom BfArM bewerteten, erstattungsfähigen DiGAs aufgelistet. Zu beachten ist, dass vorläufig aufgenommene DiGAs wieder gestrichen werden können, wenn sie keinen positiven Versorgungsaspekt nachweisen können. Als Voraussetzung für eine erstattungsfähige DiGA gilt insbesondere ein medizinischer Nutzen und/oder eine relevante Verbesserung der Versorgung. In die S3-Leitlinie für depressive Störungen von 2022 wurde die Empfehlung für Internet- oder mobilbasierte Interventionen (IMI) bereits aufgenommen.6

Autorin: D. Marion Hofmann-Aßmus

Quelle: 8. Oberberg Online-Vortragsreihe: „Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) in der Regelversorgung: viel diskutiert – noch kaum genutzt“, am 05.11.2024 mit Prof. Dr. Christine Knaevelsrud, Freie Universität Berlin.

Literatur:
1 Jakobi F et al. Nervenarzt 2014; 85:77-87
2 Ebert DD et al. Int J Methods Psychiatr Res 2019; 28(2):e1782
3 GKV-Bericht über die Inanspruchnahme und Entwicklung der Versorgung mit DiGAs Stand: 30.09.2023
4 Ebert DD, Baumeister H. In: Klinische Psychologie & Psychotherapie (pp.741-755), Springer 2020
5 Carlbring P et al. Cogn Behav Ther 2018;47(1):1-18
6 S3-Leitlinie Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression AWMF-Nr. Nvl – 005, Stand: 9/2022

Bildquelle:© SFIO CRACHO – stock.adobe.com

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