Die Prävalenz des Diabetes mellitus (DM) wird auf gegenwärtig rund 11 Millionen Patienten geschätzt. Darunter sind etwa 8,7 Millionen mit einem diagnostizierten Typ-2- Diabetes (T2DM) und 372.000 mit einem Typ-1-Diabetes. Im Schnitt wird T2DM 8–10 Jahre zu spät diagnostiziert, was auch bedeutet, dass eine große Zahl von Betroffenen unterdiagnostiziert und unbehandelt an der Erkrankung leidet. Bei der psychischen Komponente der Erkrankung steht das mit dem DM fast regelhaft einhergehende Depressionsrisiko an erster Stelle.
Diabetes mellitus ist eine chronische Volkskrankheit mit hohem somatischem Krankheitslastprofil, die signifikant die Lebenserwartung verkürzt, die Lebensqualität vermindert und bedeutsam die seelische Gesundheit der Betroffenen zusammen mit ihren Begleit- und Folgeerkrankungen kompromittiert.
Erhöhtes Risiko für Depression
Bei der psychischen Komponente der Erkrankung steht das mit dem DM fast regelhaft einhergehende Depressionsrisiko an erster Stelle. Tatsächlich ist T2DM mit einem doppelt so hohen Risiko für eine klinische Depression verbunden wie in der Allgemeinbevölkerung. Der Zusammenhang zwischen depressiven Episoden und T2DM ist dabei nicht auf westliche Kulturen beschränkt, sondern ein weltweites Phänomen, wie eine große prospektive Kohortenstudie aus China mit über 460.000 Teilnehmenden und fast 9.000 inzidenten T2DM-Fällen eindrucksvoll zeigt, die ein signifikantes adjustiertes Hazard-risiko (HR) von 1,31 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,04–1,66) ermittelte.
Wechselseitige Beziehung zwischen Diabetes und Depression
Meta-Analysen belegen, dass die Beziehung zwischen Diabetes und Depression wechselseitig ist: Depression erhöht das Risiko, an T2DM zu erkranken3, 4, und umgekehrt erhöht T2DM das Risiko für depressive Episoden5. Das Vorhandensein von T2DM allein reicht nicht aus, um das Risiko für Depression zu erhöhen. Vielmehr scheint Depression mit der Belastung durch das Leben mit der Erkrankung und deren Bewältigung verknüpft zu sein – insbesondere bei Vorliegen von Die Prävalenz des Diabetes mellitus (DM) wird auf gegenwärtig rund 11 Millionen Patienten geschätzt. Darunter sind etwa 8,7 Millionen mit einem diagnostizierten Typ-2- Diabetes (T2DM) und 372.000 mit einem Typ-1-Diabetes. Im Schnitt wird T2DM 8–10 Jahre zu spät diagnostiziert, was auch bedeutet, dass eine große Zahl von Betroffenen unterdiagnostiziert und unbehandelt an der Erkrankung leidet.
Konzept der Diabetes-bezogenen Belastung
In diesem Zusammenhang hat das Konzept der diabetesbezogenen Belastung („diabetes di-stress“) zunehmend an Bedeutung gewonnen. Diese wird definiert als „Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit Diabetes und dessen Bewältigung“ und steht in starkem Zusammenhang mit mangelhafter glykämischer Kontrolle, unzureichender Selbstfürsorge und hohen Depressionswerten. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass depressive Symptome bei Diabetes nicht nur Zeichen einer idiopathischen psychischen Störung sind, sondern vielfach durch diabetesbezogene Belastung hervorgerufen oder zumindest getriggert werden.
Ehrmann et al. konnten in einer Studie mit über 500 Patienten (davon 66 % mit Typ-1- Diabetes) unter intensivierter Insulintherapie zeigen, dass größere Schwierigkeiten im Umgang mit Diabetes (höhere diabetesbezogene Belastung) sechs Monate später mit mehr depressiven Symptomen einhergingen. Umgekehrt sagten auch stärkere depressive Symptome zu Beginn höhere diabetesbezogene Belastungen nach sechs Monaten voraus. Diese Zusammenhänge blieben auch nach Kontrolle der jeweiligen Ausgangswerte bestehen. Die Ergebnisse zeigen somit eine bidirektionale Beziehung zwischen depressiven Symptomen und diabetesbezogener Belastung.
Suizidgedanken als wesentliches Merkmal
Ein wesentliches Merkmal schwerer depressiver Episoden ist das Auftreten von Suizidgedanken, die in einzelnen Fällen auch zu Suizidversuchen oder vollendeten Suiziden führen können. Das Suizidrisiko bei Menschen mit einer majoren Depression ist etwa 20-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung. Konservativ geschätzt leiden etwa zwei Drittel der Personen, die Suizid begehen, zum Zeitpunkt ihres Todes an einer Depression.
Suizidalität: Begriff und gesellschaftlicher Umgang
Suizidalität beschreibt einen psychischen Zustand, in dem Gedanken, Gefühle und Handlungen auf Selbstzerstörung durch einen selbst herbeigeführten Tod ausgerichtet sind. Dieser Zustand entsteht oft aus einem Gefühl tiefgreifender Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit – ein Zustand, der bei chronisch kranken Menschen, z. B. bei Diabetes, nicht selten ist, aber selten offen thematisiert wird. Eine suizidale Handlung hat in der Regel eine längere Vorgeschichte, die die betroffenen Patienten durchlaufen. Hierzu gehören prominent „Suizidgedanken“ – das Grübeln über den Suizid (suicidal ideation, SID) – , die ein bedeutsamer Indikator für ein hohes suizidales Risiko darstellen
In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert nach wie vor das Bild des „freiwilligen Entschlusses“, wobei die psychodynamischen Prozesse und die oft hohe Ambivalenz der Betroffenen verkannt werden. Gerade bei Menschen mit chronischer Erkrankung kann Suizidalität ein Ausdruck kumulativer Belastung sein – durch Schmerz, Isolation, Autonomieverlust oder auch ökonomischen Druck. Die Verbindung von Diabetes und psychischem Leiden bleibt dabei vielfach unsichtbar. Im Jahr 2023 nahmen sich in Deutschland 10.300 Menschen das Leben – rund 28 Suizide pro Tag. Dies bedeutet einen Anstieg von 1,8 % im Vergleich zum Vorjahr und 6,6 % mehr als im Durchschnitt der letzten 10 Jahre. Die Verteilung zwischen Männern (73 %) und Frauen (27 %) ist dabei relativ konstant geblieben. Besonders alarmierend ist der Anstieg bei Frauen (+8 % gegenüber dem Vorjahr), während Männer leicht rückläufige Zahlen zeigten (–0,3 %). An den Todesursachen insgesamt machten Suizide ähnlich wie in den Vorjahren einen Anteil von 1,0 % aus. Suizid bleibt eine der häufigsten Todesursachen bei jungen Menschen.
Diabetes Typ 2 und Suizidrisiko: Die übersehene Tragweite
Mehrere internationale Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit DM ein signifikant erhöhtes Suizidrisiko aufweisen. In einer Meta-Analyse mit insgesamt 54 eingeschlossenen Studien konnten Wang et al. (2017) zeigen, dass Diabetes das Suizidrisiko signifikant erhöhen kann (RR = 1,56; 95%-KI: 1,29–1,89; p < 0,001)11. Eine Subgruppen-Analyse ergab, dass das mit Typ-1-Diabetes assoziierte Suizidrisiko sogar bei einer RR von 2,25 lag (95%-KI: 1,50–3,38; p < 0,001). Die gepoolte Inzidenzrate von Suizid bei Patienten mit Diabetes betrug 2,35 pro 10.000 Personenjahre (95%-KI: 1,51–3,64); das entspricht jährlich weltweit ca. 94.000 Suizide bei Menschen mit Diabetes. Die gepoolten Anteile der langfristigen Todesfälle, die auf Suizid zurückzuführen sind, lagen bei Patienten mit Typ-1-Diabetes bei 7,7 % (95%-KI: 6,0–9,8) und bei Patienten mit T2DM bei 1,3 % (95%-KI: 0,6–2,6).
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Fan et al. (2024)12: Bei Patienten mit Diabetes betrug die Suizidrate 0,027 pro 100 Personenjahre, wobei die Rate bei Typ-1-Diabetes mellitus höher war als bei T2DM. Die Prävalenz suizidaler Gedanken bei Patienten mit Diabetes lag bei 0,175, mit einer höheren Prävalenz bei Typ-1-Diabetes mellitus im Vergleich zu T2DM. Die Prävalenz von Suizidversuchen bei Patienten mit Diabetes betrug 0,033 und war bei T2DM höher als bei Typ-1-Diabetes mellitus. Webb et al. (2014) führten eine gepaarte Kohortenstudie an der schwedischen Gesamtbevölkerung durch, basierend auf verknüpften nationalen (Diabetes-) Registern13. Sie identifizierten 252.191 Personen, bei denen im Zeitraum von 1996–2009 Diabetes (Typ 1 oder Typ 2) diagnostiziert wurde. Für jedes Mitglied dieser Kohorte wurden fünf nicht betroffene Personen, die nach Alter, Geschlecht und Geburtslandkreis abgeglichen wurden, zufällig aus der Gesamtbevölkerung ausgewählt.
Das Risiko für Suizid war im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöht (RR 3,4 [95%-KI: 3,0–3,8]) wobei die Dunkelziffer bei T2DM-Suiziden vermutlich hoch ist (s. u. zur Hypoglykämie). Löfman et al. (2012) untersuchten 2.489 Suizidfälle (2.030 Männer, 459 Frauen) in Nordfinnland im Zeitraum von 1988–2010, darunter 27 mit Typ-1-Diabetes und 51 mit T2DM14. Von allen an Suizid-Verstorbenen hatten 3,1 % Diabetes (davon 34,6 % Typ-1- und 65,4 % T2DM). Im Vergleich zu Personen mit T2DM oder ohne Diabetes litten Suizidenten mit Typ-1-Diabetes häufiger an Depressionen (44,4 %, 23,5 % bzw. 19,9 %; p = 0,006) und wählten häufiger Selbstvergiftung als Suizidmethode (48,1 %, 31,4 % bzw. 18,0 %; p < 0,001). Zara et al. (2024) fanden in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (n = 2.515) heraus, dass die Prävalenz von suizidalen Gedanken (SID) bei Personen mit Diabetes dreimal so hoch (21,8 %) war wie in der Allgemeinbevölkerung15. Zusätzlich erhöhten Missbrauchserfahrungen in der Kindheit die Wahrscheinlichkeit für SID im Kontext von Diabetes (sexueller Missbrauch: 48,1 % vs. 18,2 %; χ²(1) = 12,233; p < 0,001; emotionaler Missbrauch: 35,7 % vs. 15,7 %; χ²(1) = 10.892; p < 0,001). Es zeigte sich ein dosisabhängiger Zusammenhang zwischen der Anzahl der Missbrauchserfahrungen und SID (eine Missbrauchserfahrung: OR = 1,138; 95%- KI: 0,433–2,990; p = 0,793; mehr als zwei Missbrauchserfahrungen: OR = 2,693; 95%-KI: 1,278–5,675; p = 0,009).
Hypoglykämie als Suizidmethode?
Hypoglykämie, ein kritisch erniedrigter Blutzuckerspiegel, ist eine medizinische Notfallsituation, die häufig bei Menschen mit Diabetes auftritt, wenn der Blutzucker stark absinkt. Die Symptome einer Hypoglykämie können Kopfschmerzen, Zittern, Schwitzen, Verwirrung und im schlimmsten Fall Bewusstlosigkeit oder Krampfanfälle sein. In extremen Fällen kann eine schwere Hypoglykämie zu einem Zustand führen, der für den Körper sehr gefährlich ist und das Leben bedrohen kann. Eine inadäquat erhöhte Verabreichung von Insulin kann zu Koma und ungeklärter Hypoglykämie führen.
Obwohl, wie ausgeführt, Hypoglykämien in aller Regel eine nicht beabsichtigte medizinische Notfallsituation darstellen, kann eine absichtliche Überdosierung von Insulin sowohl bei Menschen mit als auch ohne Diabetes zur Durchführung eines Suizids eingesetzt werden. Eine systematische Übersichtsarbeit mit 179 eingeschlossenen Betroffenen kam zu dem Schluss, dass Suizide durch Insulin zwar selten sind, jedoch ist angesichts der weltweit steigenden Prävalenz von Diabetes mellitus davon auszugehen, dass auch die Zahl absichtlicher Insulinüberdosierungen zunehmen wird17. In einer finnischen Studie machte Insulin die Hälfte der Fälle von Selbstvergiftung bei Typ-1-Diabetikern aus, während der Anteil bei T2DM 13 % betrug. Webb et al. (2014) identifizierten bei 9 % aller tödlichen Vergiftungsfälle der an suizidverstorbenen Diabetikern eine Überdosierung von Insulin oder oralen Antidiabetika.
Erkennung und Ansprache in der ärztlichen Praxis
Ein erheblicher Anteil der Betroffenen wendet sich vor dem Suizidversuch an ihren Hausarzt18 – oft mit unspezifischen Beschwerden. Dennoch wird das Thema selten direkt angesprochen, zum einen, weil der Patient es von sich aus nicht erwähnt, zum anderen, weil Hausärzte wegen der komplexen Thematik Schwierigkeiten haben könnten, adäquat mit suizidalen Patienten umzugehen19. Dabei ist bekannt: Ein offenes Gespräch über suizidale Gedanken erhöht nicht das Risiko, sondern kann entlastend und präventiv wirken. In vielen Fällen bleibt die Suizidalität latent – geprägt von Ambivalenz, Verleugnung oder Beziehungsdynamiken. Gerade deshalb ist die ärztliche Beziehung entscheidend: Vertrauen, Empathie und Geduld können den Unterschied machen (Tab. 2). Dank ihrer zentralen Rolle im Gesundheitssystem haben Hausärzte die Chance, bei Verdacht und/oder bestehender Anamnese (z. B. Suizidversuch in der Vergangenheit) das Suizidrisiko des Patienten zu explorieren. Dabei können sie kurze, leicht in den Praxisalltag zu integrierende Instrumente nutzen wie die SAD PERSON-Scale20 oder den Supr-10, der neben aktiven und passiven Suizidgedanken auch protektive Faktoren bzw. Gründe für das Weiterleben abfragt (Haas et al. under review). Im Rahmen der Beziehungsgestaltung geht es darum, dass Suizidgedanken und die Gründe, die eine Person einen Suizid erwägen lassen, nicht nivelliert, bagatellisiert oder übergangen werden.
Fazit
Suizidalität ist bei Patienten mit Diabetes mellitus kein Randthema, sondern ein zentraler Bestandteil einer ganzheitlichen Versorgung chronisch Kranker. Sie erfordert Aufmerksamkeit und Empathie, um Betroffene rechtzeitig zu erreichen. Besteht bei einem Diabetes-Patienten der Verdacht auf eine Depression oder ein erhöhtes Suizidrisiko, sollte der mögliche Missbrauch von Insulin zur Selbsttötung mit Angehörigen besprochen werden. Zurückhaltung, in der ärztlichen Praxis bei Verdachtsfällen dieses Thema anzusprechen, sollte unbedingt vermieden werden.
Autor:in: Prof. Dr. med. Karl-Heinz Ladwig, Priv.-Doz. Dr. Karoline Lukaschek
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