Die Innere Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. War es früher eher üblich, Erkrankungen innerhalb eines medizinischen Fachgebietes zu betrachten, ist heute eine interdisziplinäre Sichtweise unerlässlich. Multimorbidität, komplexe Krankheitsbilder und gesellschaftliche Herausforderungen wie die alternde Bevölkerung und der Klimawandel erfordern eine neue Sichtweise. Der Mensch muss als Ganzes betrachtet werden – medizinisch, psychosozial und strukturell. Das ist gelebte Interdisziplinarität, die es uns ermöglicht, Wissen und Expertise zu bündeln und im Sinne einer besseren Patientenversorgung anzuwenden. Diese Realität spiegelt sich auch im diesjährigen Internistenkongress wider, bei dem Interdisziplinarität eine zentrale Rolle spielt.
Gerade die enge Abstimmung mit anderen Fachgesellschaften, Institutionen und der Regierungskommission zeigt, wie wichtig Kooperationen sind. Dies ist insbesondere für die Strukturreformen und die ärztliche Weiterbildung von entscheidender Bedeutung.
1. Interdisziplinarität als strukturelle Notwendigkeit
Die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit zeigt sich besonders deutlich in der Intensivmedizin, die nur durch internistische Expertise sinnvoll ausgefüllt und betrieben werden kann. Diese droht internistischen Händen verloren zu gehen, wenn nicht gemeinsam mit anderen Fachdisziplinen strukturelle Lösungen entwickelt werden. Nur in der Kooperation liegt die Chance, diesen Kernbereich der Inneren Medizin zu erhalten.
2. Fachübergreifende Diagnostik und Therapie
Viele Krankheitsbilder lassen sich heute nicht mehr aus der Perspektive eines einzelnen Fachgebiets umfassend beurteilen. Die Programmpunkte des DGIM-Kongresses spiegeln dies wider:
- Adipositastherapie erfordert das Zusammenspiel von Ernährungsmedizin, medikamentösen Ansätzen und chirurgischen Verfahren.
- Bewusstseinsstörungen in der Notfall- und Intensivmedizin werden gemeinsam mit der Neurologie, Geriatrie und Notfallmedizin analysiert.
- Globale Herausforderungen wie der Klimawandel werden aus internistischer, geriatrischer, psychosozialer und infektiologischer Perspektive diskutiert.
- Interdisziplinäre klinische Symposien, unter anderem im Trillium-Format: drei Fachgebiete – ein Thema
Gerade auch aus meinem Fachgebiet, der Nephrologie, gibt es hierzu einige interessante Beispiele:
- Beim Thema Pleuraerguss liefern nephrologische Ursachen wie Flüssigkeitsüberladung oder Eiweißmangel durch Nierenkrankheit relevante Differenzialdiagnosen.
- Die Versorgung von multimorbiden CKD-Patientinnen und -Patienten mit Diabetes, Hypertonie oder Osteoporose ist ohne fachübergreifende Medikationsstrategien nicht denkbar.
- Die Notfallversorgung organtransplantierter Patientinnen und Patienten erfordert ein abgestimmtes Handeln zwischen Nephrologie, Notfallmedizin, Chirurgie und Intensivstation.
- Und bei der Hypertonieversorgung überschneiden sich kardiologische und nephrologische Expertise – ein gemeinsamer Blick „auf Herz und Nieren“ ist hier unverzichtbar.
3. Beispiel aus der Gesundheitspolitik
Auch in der Gesundheitspolitik haben wir Ende des vergangenen Jahres ein Beispiel für die Notwendigkeit interdisziplinären Denkens erlebt: das sogenannte „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) – ein gesundheitspolitisches Vorhaben der Ampel-Regierung, das 2024 vom Bundesgesundheitsministerium vorgelegt und bereits vom Kabinett beschlossen wurde, letztlich aber nicht umgesetzt wurde. Ziel des Gesetzes war es, die Prävention und Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern. Die DGIM hat sich gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) dafür eingesetzt, dass auch die chronische Nierenkrankheit (CKD) im Gesetz berücksichtigt wird – denn sie ist ein eigenständiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Auch wenn das Projekt politisch nicht erfolgreich war, bleibt es ein wegweisendes Beispiel interdisziplinärer Kooperation, in dem internistische Subspezialitäten fachübergreifend Verantwortung für eine gemeinsame Versorgungsstrategie übernommen haben.
4. Interdisziplinarität über die Innere Medizin hinaus
Aber auch die Schnittstellen zur Chirurgie gewinnen an Bedeutung. Die Entscheidung, ob ein Herzkatheter oder ein operativer Eingriff sinnvoller ist, sollte im Team getroffen werden – mit Blick auf medizinische Evidenz und Patientenwunsch. Interdisziplinarität ist hier kein akademisches Konzept, sondern gelebter klinischer Alltag. Dazu hat heute Morgen eine gemeinsame Sitzung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und Deutschen Gesellschaft für Chirurgie stattgefunden, die Sie gerne on-demand abrufen können.
Fazit
Die Innere Medizin steht an einem Wendepunkt: Um den Herausforderungen einer älter werdenden, oft multimorbiden Gesellschaft gerecht zu werden, muss sie sich noch stärker vernetzen – innerhalb ihrer eigenen Disziplinen und darüber hinaus. Dabei geht es nicht nur um bessere Behandlungsqualität, sondern auch um die Sicherung medizinischer Versorgungsstrukturen.
Gesundheitspolitisch muss Interdisziplinarität systematisch gefördert werden – etwa durch Anpassung von Weiterbildungscurricula, Schaffung interprofessioneller Versorgungsmodelle und strukturelle Reformen, die interdisziplinäre Arbeit ermöglichen und belohnen. Nur so kann die Innere Medizin auch in Zukunft ihrem Anspruch gerecht werden, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen und optimal zu versorgen.
Professor Dr. med. Jan Galle, Vorsitzender der DGIM 2024/2025 und Präsident des 131. Internistenkongresses, Direktor der Direktor der Klinik für Nephrologie und Dialyseverfahren, Klinikum Lüdenscheid
Quelle: DGIM-Kongress vom 3.-6. Mai 2025 in Wiesbaden
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