Übergewicht stellt das Gesundheitswesen vor erhebliche Herausforderungen. Hausärzt*innen befinden sich in einer idealen Position, um einen Beitrag zur Adipositasprävention zu leisten, Betroffene rechtzeitig zu diagnostizieren und Maßnahmen einzuleiten. Eine große Interviewstudie zeigt verschiedene Strategien und Ansätze bei der hausärztlichen Betreuung bzw. Therapie.
Gerade die hausärztliche Versorgung gilt als gut geeignet, um einen Beitrag zur Adipositasprävention zu leisten, Patientinnen rechtzeitig zu diagnostizieren und therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Hausärzte sind mit ihren Patientinnen vertraut, sodass sie die langfristige Therapiebereitschaft und -motivation positiv beeinflussen können6.
Abgesehen von der Beratungs- und Unterstützungstätigkeit stehen Hausärzten verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung, die dem Ziel der Gewichtsreduktion durch eine Veränderung des Lebensstils dienen. Hierzu zählen diätetische und bewegungstherapeutische Beratung, therapeutische Interventionen oder auch die Vermittlung zu externen Hilfsangeboten. Patientinnen, die besonderer psychosozialer Stabilisierung bedürfen, können einer psychologischen Intervention zugeführt werden. Medikamentöse und chirurgische Therapieoptionen können zusätzlich in Betracht gezogen werden1,7. Kürzlich wurden von der Abteilung Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Mainz insgesamt 36 persönliche Interviews mit Hausärztinnen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland geführt (breite geografische Verteilung der Praxen, paritätische Berücksichtigung von Stadt und Land sowie verschiedener Niederlassungsformen). Ziel war es, hausärztliche Einstellungs- und Handlungsmuster zum Adipositasmanagement, die Betreuungs- und Versorgungsbereitschaft, Vorgehensweisen und Strategien sowie erlebten Herausforderungen zu erfassen.
Im Zuge der Auswertung konnten vier voneinander unterscheidbare Typen von Ärztinnen gefunden werden: Der erste Typus (Die Resignierten) fällt durch eine negative Sichtweise auf das hausärztliche Adipositasmanagement, betroffene Patientinnen, die Bereitschaft zur Versorgung und die Selbstwirksamkeitsannahmen auf. Die Befragten berichten davon, dass sie mangelnde Compliance und zahlreiche Rückschläge bei therapeutischen Interventionen beobachten mussten, die bei Patientinnen zu ernsthaften Langzeitschäden und verstärkten Mortalitätsrisiken geführt haben. Als Resultat jahrelanger Frustrationserfahrungen wird in dieser Gruppe ein Zweifel formuliert, ob Hausärztinnen in der Lage sind, Adipositasbetroffene effektiv zu managen. Vielmehr sollten hier Fachärzte und Spezialisten agieren, möglicherweise unter Einsatz medikamentöser, psychotherapeutischer oder ggf. chirurgischer Lösungen, die angesichts mangelnder Veränderungsbereitschaft auf Seiten der Patienten als letzte Option gesehen werden.
Die anderen drei Typen zeigen einen aufgeschlossenen und aktiven Umgang mit Adipositas, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Hier wird die Hausarztpraxis als wichtige Instanz betrachtet, um Patientinnen im Prozess der Gewichtsabnahme zu begleiten. Der zweite Typus (Die Trainer) beinhaltet Hausärztinnen, die Adipositas primär als eine Kombination aus Lebensumständen und Veranlagung betrachten. Sie nehmen die rechtzeitige Diagnostik ernst und legen gesonderten Wert darauf, Patientinnen an ein strukturiertes Bewegungs- und Ernährungsprogramm heranzuführen. Im Kontext dieses Vorgehens berichten sie von Therapieerfolgen. Bei diesen Hausärztinnen ist bemerkenswert, dass sie in ein kommunales Netzwerk der Bewegungs- und Gesundheitsförderung integriert sind und über gut funktionierende informelle Kontakte vor Ort verfügen. Allem voran gilt dies für die Zusammenarbeit mit Fitnessstudios, Selbsthilfegruppen, Ernährungs- und Gesundheitsberatern.
Die Möglichkeit, Patientinnen unkompliziert an verlässliche Sport- und Gesundheitsangebote zu vermitteln, wird als essenziell erachtet, um Adipositasbetroffene hinreichend unterstützen zu können. Essenziell sei es, dass der Patient den „Wechsel aus sich heraus“ schaffe und seine Alltagsroutinen nachhaltig umstelle. Hierbei können aus Sicht der Befragten auch Gesundheits-Apps zur Motivation bzw. Tagesregulation hilfreich sein. Der Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Verfahren wird „bis auf absolute Notfälle“ vehement abgelehnt, da nicht zuletzt Jojo-Effekte befürchtet werden. Auch der dritte Typus (Die Motivatoren) schließt derartige Lösungen weitgehend aus. Anders als die ‚Trainer‘ sehen die Befragten in diesem Cluster ihre vordringliche Aufgabe darin, beim Patienten durch intensive psychosoziale Unterstützung, Motivation und Bestärkung die Erkenntnis reifen zu lassen, dass es erstrebenswert ist, seinen Lebensstil zu verändern. Den Befragten sind eine sensible Kommunikation und eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung besonders wichtig. Zentral sei es, diesen Patientinnen ausreichend Beratungszeit einzuräumen und auch bei therapeutischen Rückschlägen immer wieder das Gespräch zu suchen.
Einige der Befragten in dieser Gruppe haben eine Zusatzweiterbildung Psychotherapie bzw. Psychoanalyse absolviert und halten derlei Kenntnisse für ein längerfristig erfolgreiches Adipositasmanagement für wertvoll. Ähnlich wie die ‚Trainer‘, die im sportlichen Bereich kommunal verankert sind, lässt sich auch hier eine Vernetzung beobachten, allerdings mit psychosozialen Betreuungs- und Unterstützungsangeboten.
Der vierte Typus (Die Präventionsorientierten) erscheint als Variation der beiden vorangegangenen. Zwar werden Adipositaspatienten auch in dieser Gruppe aktiv betreut und therapeutische Maßnahmen initiiert, allerdings liegt ihr Fokus auf der Prävention. So komme es darauf an, vorher anzusetzen und die Entstehung starken Übergewichts bei Patientinnen „möglichst systematisch“ zu verhindern, indem frühzeitig auf Risikofaktoren hingewiesen und die Voraussetzungen für einen gesunden Lebensstil geschaffen werden. Befragte in dieser Gruppe nehmen insbesondere den Gesundheits-Check-up als „Frühwarnsystem“ sehr ernst und haben sich teilweise ernährungsmedizinisch fortgebildet; sie legen großen Wert auf einen regelmäßigen Patientenkontakt und eine konsequente Aufklärung. Auch durch die kontinuierliche Ermittlung der Blutwerte könnten Risikofaktoren frühzeitig erkannt und im Blick behalten werden. Von einer Involvierung des Praxispersonals zur Unterstützung wird Gebrauch gemacht. Strukturen mit Ausbau- und Optimierungspotenzial Über alle Cluster hinweg räumen die Befragten ein, dass das erfolgreiche Management von Adipositaspatientinnen sich oft zeitintensiv darstelle, viel ärztliches Engagement und bei therapeutischen Fehlschlägen Neuanläufe erfordere. Moniert wird ein ausgeprägter Mangel an Strukturen und Versorgungsakteuren, die Hausärztinnen bei der Adipositasprävention und beim therapeutischen Management unterstützen können. Wiederkehrend wird konstatiert, der Hausarzt sei bei der Betreuung und Behandlung von adipösen Patientinnen oftmals „ziemlich allein gelassen“; besonders in ländlichen Umgebungen fehle es an niedrigschwelligen Beratungs- und Motivationsangeboten. Zudem wurde von einigen Interviewten gefordert, angesichts der gestiegenen Zahl an Menschen mit starkem Übergewicht auch ein Disease-Management-Programm Adipositas einzuführen, das ein Einstieg in eine „stärkere Institutionalisierung des Krankheitsbilds“ sei.
Hausärztinnen üben eine aktive Rolle aus Die Interviewergebnisse belegen, dass – trotz zuweilen auch skeptischer Positionen – bei der Mehrheit der befragten Hausärztinnen eine hohe Bereitschaft und Sensibilität vorhanden ist, übergewichtige und adipöse Patientinnen zu betreuen und therapeutisch zu begleiten. Dabei fallen unterschiedliche Strategien und Schwerpunkte auf, die zur Stabilisierung und Motivierung gewählt werden. So legt eine Gruppe stärker den Fokus auf frühzeitige und konsequente Ernährungsumstellung und körperliche Aktivierung, eine andere setzt eher bei der psychosozialen Unterstützung an. Hervorstechen Befragte, die je nach gewählter Vorgehensweise informelle Netzwerke zu Fitness- und Bewegungsanbietern geknüpft haben oder mit psycho- und verhaltenstherapeutischen Akteuren zusammenarbeiten. Insgesamt fügen sich die Ergebnisse in die bestehende Studienlage, derzufolge Adipositas unter Ärztinnen ein durchaus polarisierendes Krankheitsbild ist und je nach Einstellung einen unterschiedlichen Grad an Betreuungs- und Versorgungsbereitschaft nach sich zieht8–17. Zudem reflektieren die Resultate defizitäre Strukturen in der Adipositasversorgung sowie eine bislang nicht ausreichende Finanzierung von Ernährungs-, Bewegungs- und medikamentösen Therapien durch die Krankenkassen18,19.
Derzeit fehlt es bei der Behandlung von Menschen mit Adipositas an strukturierten und zugleich individualisierbaren Therapiekonzepten, in denen Patientinnen vom Hausarzt kontinuierlich im Prozess ihrer Lebensstiländerung unterstützt werden können8,9,16,18. Die Entwicklung strukturierter Versorgungsprogramme zum Adipositasmanagement, die auf die hausärztliche Versorgungsrealität zugeschnitten sind, erscheint daher wichtig. So können Hausärztinnen noch besser in die Lage versetzt werden, eine individuelle Beratung und therapeutische Begleitung sowie die Koordination einer multidisziplinären Adipositasversorgung zu übernehmen20,21–24.
Hausärztinnen sollten insgesamt in ihrer Vermittlerrolle bestärkt werden, indem sie Adipositaspatientinnen je nach Bedarf in ein Netzwerk weiterer Hilfen einbinden. Eine Diagnose Adipositas sollte insofern mit konkreten Handlungsempfehlungen verbunden werden (Ernährung, Bewegung). Hier geben bestehende Leitlinien weitere Hilfestellung und Orientierung22. Fast alle gesetzlichen Krankenkassen bieten Präventionsprogramme an; ähnliches gilt für Gesundheitsämter, die oftmals einen guten Überblick über Kurs- und Beratungsangebote im Landkreis haben. Auch kann bei problematischem Gewichtsverlauf eine Ernährungsberatung auf Muster 16 beim Diätassistenten verordnet werden. Ferner können gezielte Überweisungen sinnvoll sein, etwa zum Psychotherapeuten bei psychischer Grunderkrankung oder Depression oder zum Endokrinologen zwecks Abklärung hormoneller Ursachen25,26.
Autoren: Dr. Julian Wangler, Univ.-Prof. Dr. med. Michael Jansky, MME
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