Hinweise, dass man Adipöse mit Blick auf gesundheitliche Risiken nicht über einen Kamm scheren darf, gibt es schon länger. Ein wichtiger Baustein in diesem Kontext ist das Konzept der stoffwechselgesunden Adipositas (Metabolically Healthy Obesity, MHO). Warum Menschen selbst stärkeres Übergewicht wegzustecken scheinen, ohne dass es zu nennenswerten metabolischen Störungen und kardiovaskulären Folgekomplikationen kommt, erklärt Diabetes-Experte Prof. Dr. Norbert Stefan im Interview.
Herr Prof. Stefan, worauf basiert das Konzept der stoffwechselgesunden Adipositas, kurz MHO? Was genau heißt stoffwechselgesund in diesem Kontext? Auf welchen Parametern liegt der Fokus?
Prof. Stefan: Es fällt auf, dass manche Adipöse trotz hohem Body-Mass-Index (BMI) keine oder kaum metabolische Veränderungen aufweisen, während andere – mit gleichem BMI – ausgeprägte Stoffwechselstörungen und kardiovaskuläre Begleiterkrankungen haben. Wir haben beim Konzept der stoffwechselgesunden Adipositas (MHO) anfangs auf den Parameter Insulinsensitivität fokussiert. Bei MHO ist die Insulinempfindlichkeit normal, während bei der stoffwechselungesunden Adipositas (Metabolically UnHealthy Obesity, MUHO) Anzeichen einer Insulinresistenz bestehen. Weiterhin wichtig mit Blick auf das Morbiditätspotenzial der Adipositas sind die Fettverteilung und der Taille-Hüft-Quotient als leicht zu bestimmendes Maß. Die bauchbetonte Adipositas ist – im Unterschied zur hüftbetonten Adipositas – mit einem hohen kardiovaskulären Risiko verbunden. Sehr stark korreliert zudem ein niedriges HDL-Cholesterin mit einem hohen Risiko. Weiterhin wichtig sind erhöhte Triglyzeride, Anstiege des Blutzuckers sowie Hypertonie. Bei der stoffwechselgesunden Adipositas liegt per definitionem maximal einer dieser Risikofaktoren vor.
Diese Risikofaktoren sollte man demzufolge routinemäßig bei der diagnostischen Abklärung einer Adipositas erfassen?
Ja, das sollte man tun, um das individuelle Krankheitspotenzial abzuschätzen. Menschen mit MHO sind – im Unterschied zu Personen mit MUHO – kardiovaskulär kaum gefährdet. Derzeit stützt sich die Adipositas-Diagnostik in erster Linie auf den BMI, aber dieses Vorgehen ist unzulänglich. Es lässt die Fettverteilung, die für die Adipositas-assoziierte Morbidität von zentraler Bedeutung ist, außer Acht und wird der Heterogenität der Adipositas nicht gerecht. Ich will das mal anhand der schwedischen SOS-Studie verdeutlichen, die den Benefit einer bariatrischen Operation mit Blick auf „Major Adverse Cardiac Events“ (MACE) – also Herzinfarkt, Schlaganfall, kardiovaskulärer Tod – untersucht hat. Wie alle gewichtsreduzierenden Maßnahmen bei Adipositas zielt die bariatrische Chirurgie maßgeblich auf eine Verringerung des kardiovaskulären Risikos ab.
Das ist bei der SOS-Studie herausgekommen: Betrachtet man die gesamte Studienpopulation, so mussten 50 Teilnehmende bariatrisch operiert werden, um ein MACE zu verhindern. Mit anderen Worten: 49 Betroffene profitierten von dem Eingriff nicht im Sinne einer Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse. Im nächsten Schritt hat man geprüft, ob es Subgruppen gibt, die mehr oder weniger stark profitieren. Der BMI vor der OP erwies sich in dieser Hinsicht als nicht relevant. Dann hat man eine Differenzierung nach dem vor der OP bestimmten Nüchterninsulin vorgenommen. Ein niedriges Nüchterninsulin weist auf eine gute Insulinempfindlichkeit und damit auf eine stoffwechselgesunde Adipositas hin. Bei dieser Subgruppe war die „Number needed to treat“ mit 173 noch ungünstiger als in der Gesamtpopulation: Mit Blick auf MACE hat nur einer von 173 Operierten mit MHO profitiert. Ganz anders der Benefit bei Betroffenen mit vor der OP hohem Nüchterninsulin als Zeichen einer MUHO: Diese Patienten haben stark profitiert. Bei einem von 21 Betroffenen mit MUHO konnte in der SOS-Studie ein MACE verhindert werden.
Das heißt: Patienten mit MHO sind anders – eventuell weniger intensiv – zu therapieren als Patienten mit MUHO?
Die Nutzen-Risiko-Relation für gewichtsreduzierende Maßnahmen ist bei MHO und MUHO sicherlich unterschiedlich zu veranschlagen, und das legt Konsequenzen für die Indikationsstellung nahe. In der SOS-Studie wurde das für die bariatrische Chirurgie gezeigt, aber das gilt auch für andere Therapieformen. Interventionen bei Adipositas sind Langzeitinterventionen, die für die Patienten mit relevanten Einschränkungen und eventuell auch Risiken verbunden sind. Wer adipöse Betroffene betreut, der weiß, wie frustrierend der Versuch sein kann, das Gewicht dauerhaft zu reduzieren. Für viele Betroffene ist das Thema angstbesetzt, weil sie immer wieder gescheitert sind. Auch das sollte man – abgesehen vom potenziellen Benefit einerseits und möglichen Risiken anderseits – im Blick haben und bei den Empfehlungen zum therapeutischen Vorgehen berücksichtigen. Hinzu kommt der Kostenaspekt. Wenn wir über ein differenziertes Vorgehen bei MHO und MUHO sprechen, sprechen wir in erster Linie von einem BMI-Bereich zwischen 30 und 40. Bei sehr hohen BMI-Werten ab 40 sind – abgesehen vom kardiovaskulären Risiko – auch andere Aspekte wie Probleme des Bewegungsapparats maßgeblich für die Therapieentscheidung.
Anfang des Jahres hat eine internationale Kommission ein Konsensuspapier publiziert, in dem es genau darum geht: um differenzierte Adipositas-Diagnostik als Basis einer differenzierten Intervention …
Diese Initiative ist natürlich zu begrüßen. Die Differenzierung von präklinischer und klinischer Adipositas ist analog zu sehen zur Differenzierung MHO / MUHO. Abgesehen von der Stoffwechsellage gehen die Kollegen in ihrem Entwurf zusätzlich auf bereits vorhandene Morbiditäten ein, die diagnostisch abgeklärt werden sollten. Auch das ist natürlich richtig, aus meiner Sicht ist allerdings das vorgeschlagene Vorgehen etwas zu komplex. Es ist unstrittig, dass wir wegkommen müssen von einer Adipositas-Diagnostik, die sich allein auf den Body Mass Index stützt. Aber wenn wir auf breiter Front das Adipositas-Management verbessern wollen, dann brauchen wir pragmatische Strategien, die sich leicht umsetzen lassen. Es wird in absehbarer Zeit ein Disease Management Programm (DMP) zur Adipositas geben. Der Beschluss steht, aktuell werden die Verträge mit den Kostenträgern ausgehandelt. Das DMP wird die strukturierte Implementierung eines differenzierten Adipositas-Managements voranbringen und ist allein schon deshalb ein Schritt in die richtige Richtung, weil Adipositas damit als behandlungsbedürftige Krankheit in den Fokus rückt. Im Moment wird Übergewicht ja oft eher als Randphänomen wahrgenommen.
Zurück zur stoffwechselgesunden Adipositas: Ist die MHO ein dauerhaftes Phänomen, das eine distinkte Subpopulation kennzeichnet, die vielleicht „gute Gene“ hat? Oder handelt es sich um einen passageren Zustand, der irgendwann in eine Stoffwechsel-ungesunde Adipositas übergeht?
Beides kann zutreffen. Unter Federführung meines Kollegen Prof. Matthias Schulze von der Universität Potsdam und dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke, mit dem ich über viele Jahre zusammen zum Thema MHO forsche und auch eng im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD) zusammenarbeite, haben wir diese Frage retrospektiv am großen Kollektiv der US-amerikanischen „Nurses Health Study“ untersucht. Wir konnten zeigen, dass 14 % der Frauen mit einer MHO zu Beginn der Studie auch am Ende des Follow-up-Zeitraums von 30 Jahren noch metabolisch gesund waren. Bei 86 % der Frauen dieses Subkollektivs war die MHO nach 30 Jahren in eine MUHO mit Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck übergegangen. Interessant dabei war, dass jene adipösen Frauen, die stoffwechselgesund blieben, nur ein leicht (+ 39 %) erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse hatten im Vergleich zu schlanken und stoffwechselgesunden Frauen, während das Risiko in adipösen stoffwechselungesunden Frauen deutlich (+ 215 %) erhöht war. Die Crux ist, dass wir derzeit den Verlauf der Stoffwechselgesundheit im individuellen Fall nicht vorhersagen können.
Gibt es nicht vielleicht genetische Signaturen, die für eine dauerhaft stoffwechselgesunde Adipositas prädisponieren?
Tatsächlich wurden bereits einige Punktmutationen identifiziert, die mit der stoffwechselgesunden Adipositas in Zusammenhang stehen und im Sinne einer polygenen Prädisposition zusammenspielen. Im Moment steht die Erforschung des genetischen Hintergrunds der Adipositas noch am Anfang. Aber angesichts des rasanten Fortschritts auf diesem Gebiet ist es denkbar, dass schon in einigen Jahren praxisreife genetische Tests für eine differenzierte Adipositas-Diagnostik zur Verfügung stehen.
Was sind das denn für Gene, die eine Rolle spielen? Welche Informationen enthalten sie?
Die meisten bisher identifizierten relevanten Gene stehen mit der Fettverteilung in Zusammenhang. Kaum risikobehaftet sind Fettablagerungen im Bereich der Hüfte und der unteren Extremitäten. Hier wird das Fett ins Unterhautfettgewebe eingelagert, Diese birnenförmige Fettverteilung ist eher typisch für Frauen, kommt aber auch bei Männern vor. Mit einem hohen kardiovaskulären Risiko verbunden sind dagegen viszerale Fettdepots im Bauchraum und in inneren Organen wie Leber und Pankreas. Die Einlagerung von Fett in die Leber ist ein wichtiger Marker für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Die apfelförmige Fettverteilung gilt als typisch männlich, kommt aber ebenfalls bei beiden Geschlechtern vor.
Die Fettverteilungsmuster korrelieren mit einem unterschiedlichen Verhalten der Vorläuferfettzellen. Zu unterscheiden sind hyperplastische und hypertrophe Adipositas. Bei der hyperplastischen Adipositas, die mit Fettdepots im Unterhautfettgewebe assoziiert ist, haben die Vorläuferfettzellen eine normale Teilungsaktivität. Das Fettgewebe setzt sich aus vielen kleinen Fettzellen zusammen, die einen normalen Energiehaushalt aufweisen. Rund 80 % der bislang identifizierten Gene, die für eine stoffwechselgesunde Adipositas prädisponieren, steuern die Teilungsaktivität der Vorläuferfettzellen. Bei der hyperplastischen Adipositas dagegen – und das ist die kardiovaskulär gefährliche Variante – teilen sich die Fettzellen nicht, sondern die einzelnen Zellen werden immer größer und lagern immer mehr Fett ein. Das führt innerhalb des Fettgewebes zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff, die wiederum eine erhöhte Ausschüttung von Zytokinen nach sich zieht. Es kommt zu einer subklinischen Entzündung im Fettgewebe. In der Folge kann Fett schlechter von den Fettzellen aufgenommen werden, es gelangt ins Blut und wird so im Körper verteilt. Fettlagerungen u. a. in Herz und Gefäßen können die Folge sein.
Sie haben vorgeschlagen, dass Adipöse mit MUHO erst einmal anstreben sollten, in den Zustand einer MHO zu gelangen. Die MHO sei die niedriger hängende Frucht und damit leichter zu erreichen als das stoffwechselgesunde Normalgewicht …
Ja, das ist aus meiner Sicht eine sinnvolle Vorgehensweise. Wenn adipöse Menschen mit metabolischen Störungen bzw. kardiovaskulären Risikofaktoren es schaffen, in den Zustand der MHO zu gelangen, ist schon sehr viel gewonnen und dieses Konzept haben Matthias Schulze und ich auch wissenschaftlich dargelegt. Die Erfolgschancen sind deutlich größer, wenn die Betroffene nicht ständig vor Augen zu haben: Du musst dein Gewicht in den Normbereich bringen. Von einem BMI um die 35 zum Beispiel auf unter 25 zu kommen und dann das Gewicht auch dort zu halten, ist eine echte Herausforderung. Scheitern und Frustration sind vorprogrammiert. Deshalb sollte man lieber realistische Ziele setzen und abnehmwillige Personen nicht mit Idealvorstellungen überfordern.
Interview: Ulrike Viegener



