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Phytotherapie: Pflanzenheilkunde in der Kinderheilkunde

Reihe von Fläschchen mit ätherischen Ölen, gefüllt mit Kräutern und Blumen, Symbol für Naturheilkunde und Aromatherapie.

Phytotherapie: Pflanzenheilkunde in der Kinderheilkunde

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mgo medizin Redaktion

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8 MIN

Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Pflanzliche Arzneimittel in der Kinderheilkunde ­haben erfahrungsgemäß eine hohe Akzeptanz ­seitens der Eltern. Daraus resultiert zugleich die ­Adhärenz, demzufolge das verordnete Arzneimittel dem kranken Kind auch verabreicht wird. Dabei zeigt sich, dass bei gegebener Indikation die Progredienz einer Akuterkrankung durch die Phytotherapie minimiert werden kann. Ein klassisches Beispiel ist der akut fieberhafte Infekt wie er in Heft 15/2025 Der Allgemeinarzt unter Berücksichtigung der unlängst publizierten S3-Leitlinie „Fiebermanagement bei Kindern und Jugendlichen“ thematisiert wurde.

Zur Behandlung häufig auftretender Erkrankungen im Kindesalter bietet sich ein breites Spektrum an pflanzlichen Arzneimitteln an. Diese Erkenntnis ist in der hausärztlichen Versorgung von Kindern relevant, zumal in korrespondierenden Leitlinien dieser Behandlungsansatz meist unzureichend abgebildet wird; praxisevaluierte Hinweise sollen phytotherapeutische Optionen aufzeigen.

Nichtorganische Schlafstörungen

Die Aussage „unser Kind schläft schlecht“ sollte nicht reflektorisch abgetan werden. „Schlafstörungen sind vielseitig und bergen gerade bei Kindern und Jugendlichen die Schwierigkeit, dass Betroffene meist erst durch elterliche Besorgnis vorstellig werden“, heißt es im Vorspann der S1-Leitlinie Nichtorganische Schlafstörungen, die derzeit überarbeitet wird (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie: DGKJP). Im Hinblick auf das therapeutische Vorgehen werden nicht-medikamentöse Verfahren priorisiert, die sich im Stichwort „Schlafhygiene“ bündeln und damit die Eltern adressieren. „Eine medikamentöse Behandlung kommt in den meisten Fällen nur vorübergehend und zur Entlastung infrage“: dabei wird die Phytotherapie als Option ausdrücklich erwähnt und beispielhaft der Baldrian genannt. Der aus der Wurzel hergestellte standardisierte Extrakt gehört zu den am besten untersuchten Pflanzen. Unter der Einnahme nimmt die Hyperaktivität ab, die Schlafqualität verbessert sich und beeinflusst nicht die REM- und Tiefschlafphasen. Baldrianextrakt-Präparate (z.B. Baldrivit 600mg, Euvegal Balance 500mg, Sedonium 300mg) sind für Kinder ab 12 Jahren zugelassen; die Einnahme einer Tablette sollte ca. ½ Stunde vor dem Zubettgehen erfolgen. Eine weitere Option ist die Passionsblume, deren Extrakt leicht sedierend und zugleich anxiolytisch wirkt (z.B. Pascoflair) und im Sinne eines Tagessedativums eingesetzt werden kann.

Praxisbewährt sind auch pflanzliche Kombinationen wie Baldrianwurzel und Hopfenzapfen (z.B. Alluna Schlaf) für Kinder ab dem 12. Lebensjahr sowie Baldrianwurzel und Melissenblätter; letztere kann bei Unruhezustände und dadurch bedingter Insomnie bereits ab dem 6. Lebensjahr verordnet werden (z.B. Euvegal 320mg/160mg). Als off-label-use ist diese Kombination auch zur Behandlung einer ADHS-Symptomatik geeignet und kann – unter Berücksichtigung der Leitlinien orientierten Allgemeinmaßnahmen – als Primärtherapie probatorisch eingesetzt werden. Je nach Symptomatik lässt sich die Phytotherapie als add-on mit der chemisch-synthetischen Medikation kombinieren, sodass mittelfristig oft die Dosis reduziert werden kann. Generell empfehlen sich bei Verhaltensauffälligkeiten zumal bei Kindern und Jugendlichen einzelne Behandlungsansätze des Kneipp’schen Therapiekonzepts, um bei der praktischen Durchführung idealerweise die Eltern aktiv mit einzubeziehen.

Ginkgo biloba – ein Evergreen

Im Spektrum der Phytotherapie kommt Ginkgo biloba ein besonderer Stellenwert zu. Bekannt als studiengesicherter Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761 zur Therapie von cerebralen und peripheren Durchblutungsstörungen können in Kenntnis der Datenlage weitere Indikationen – wenn auch als off-label-use – als praxisbewährt formuliert werden. Dazu gehört auch die ADHS-Symptomatik, zu deren Behandlung mit dem genannten Ginkgo-Spezialextrakt mehrere Studien, wenn auch mit kleinen Patientenzahlen (n=20) vorliegen. Im Ergebnis zeigt sich über einen Zeitraum von bis zu 5 Wochen eine Verbesserung der ADHS-Kernsymptomatik, wobei zusammenfassend eine verträgliche und klinisch wirksame Behandlungsmöglichkeit für Kinder mit ADHS festgestellt wird. Diese Daten korrespondieren mit Erkenntnissen aus der Praxis und basieren auf einer Dosierung von 120mg bei morgendlicher Anwendung des genannten Ginkgo-Spezialextrakts (Tebonin).

Die arzneimittelrechtliche Bewertung eines Pflanzenextrakts führt typischerweise zu einer definierten Indikation. Vielfach kann jedoch die Arzneipflanze auf Basis empirischer Erkenntnisse bei weiteren Anwendungsgebieten eingesetzt werden, was zu einem praxisrelevanten off-label-use führt; dies betrifft im übrigen nicht nur pädiatrische Indikationsfelder. Klinische Scores von Studien mit dem genannten Ginkgo-Spezialextrakt bieten zugleich validierte Daten und belegen die Begrifflichkeit der multi-target-Wirkung. Beispielhaft zu nennen sind Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter; eine S2k-Leitlinie Primäre Kopfschmerzerkrankungen wird bis Juli 2026 erscheinen. Der erwähnte Ginkgo-Spezialextrakt kann auch zur (off-label-use)-Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden; die gleichlautende S3-Leitlinie ist für Ende 2025 angekündigt.

Enuresis und funktionelle Harninkontinenz

Die hausärztliche Kompetenz wird auch bei Enuresis und nicht-organischer Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen erfahrungsgemäß mit eingefordert. In der S2k-Leitlinie der beiden Gesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Kinder- und Jugendmedizin wird im Abschnitt „Therapie“ zunächst darauf hingewiesen, wonach „vor Beginn oder parallel zur Therapie der Harninkontinenz manifeste komorbide Störungen behandelt werden sollen.“ Dabei wird gemäß Leitlinie die „Normalisierung der Darmentleerung“ priorisiert; weitere Aspekte sind psychische Störungen mit beispielhaften Hinweisen auf ADHS und Depressionen. Explizit werden auch Harnwegsinfektionen thematisiert, wonach „Mädchen besonders betroffen sind“, wobei zur maximal sechsmonatigen Therapie Nitrofurantin auf Basis eines Antibiogramms vorgeschlagen wird. Wenn auch in der Leitlinie nicht thematisiert, ergeben sich Ansätze für eine Phytotherapie. Dies betrifft die geschilderten Arzneipflanzen zur Behandlung der psychischen Komorbiditäten, bei denen die jeweils genannten Phyto-Präparate eingesetzt werden können.

Harnwegsinfekte im Kindes- und Jugendalter

Harnwegsinfekte als Komorbidität, wie in der zitierten Leitlinie genannt, führt zu einer aktuellen S2k-Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie (GPN) und dem Arbeitskreis Kinder- und Jugendurologie der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU): „Harnwegsinfektionen im Kindesalter – Diagnostik, Therapie und Prophylaxe“. In einem eigenen Kapitel werden zwei pflanzliche Arzneimittel genannt, die jeweils unterschiedliche Pflanzen enthalten: Die Kombination von Liebstöckelwurzel, Rosmarinblätter und Tausendgüldenkraut (Canephron N), die für Kinder ab 12 Jahren zugelassen ist. Ein weiteres Phyto-Präparat enthält Kapuzinerkresse und Meerrettichwurzel (Angocin Anti-Infekt N), welches eine Zulassung ab dem 6. Lebensjahr hat. Des Weiteren wird in der Leitlinie die Moosbeere (Cranberry) als therapeutische Option genannt; dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Pflanze meist in Kombination mit z.B. D-Mannose als Medizinprodukt bzw. als Nahrungsergänzungsmittel angeboten wird und somit nicht die Kriterien für ein Arzneimittel vorliegen, weshalb sie nicht verordnungsfähig sind.

Kasuistisches Beispiel

Anamnese


Das 8 Jahre alte Mädchen leidet aktuell unter Schmerzen beim Wasserlassen. Die Mutter berichtet, dass ihre Tochter sich im Freibad relativ lange Zeit im Wasser aufhält und bei Sommertemperaturen meint, den nassen Badeanzug nicht wechseln zu müssen. Auf Befragen ergibt sich eine grundsätzliche Neigung des Mädchens an Harnblaseninfekten zu leiden. In der Folge kommt es – nach Abklingen der entzündungsbedingten Harnblasen-Symptomatik – zu einem Rezidiv einer diagnostisch gesicherten Enuresis, welche oft bis zu zwei Monate persistiert.

Die kinderärztliche Kollegin, die das Mädchen betreut, hat bislang eine Antibiose favorisiert, was die Mutter ablehnt. Auf Grund der hausärztlichen Betreuung der allein erziehenden Mutter ist ihre diesbezügliche Einstellung bekannt, zumal das Mädchen bis vor etwa 1 ½ Jahren und noch im Schulalter unter einer Enuresis litt. Die damit verbundene familiäre und schulische Problematik führte zu einer pädiatrisch-urologischen Diagnostik an der hiesigen Kinderklinik, deren Leitlinien orientierter Behandlungsvorschlag in einer antibiotischen Langzeitbehandlung bestand, welche die Mutter jedoch nach drei Monaten entgegen der pädiatrischen Empfehlung beendet. Epikritisch ist anzumerken, dass zu diesem Zeitpunkt keine Enuresis mehr bestand.

Befund


Das Kind ist fieberfrei, wirkt jedoch krank und klagt über häufigen Harndrang mit Brennschmerz. Palpatorisch ist das Abdomen unauffällig bei Schmerzangabe oberhalb des Symphysenbereichs; Nierenlager nicht klopfempfindlich; Füße auffallend kalt. Urinstatus wird in der Praxis erhoben: Urin klar, hellgelb, typischer Geruch; Uricult: Ery+, Leuco++, Nitrit neg., Protein neg.. Sämtliche U-Termine sind beim Pädiater durchgeführt, Impfstatus gemäß STIKO-Vorgaben.

Therapie


In partizipativer Entscheidung mit der Mutter wird dem Mädchen ein pflanzliches Arzneimittel verordnet, was mit der zitierten Leitlinie korrespondiert. Das Phyto-Präparat mit standardisierten Pflanzendrogen aus Kapuzinerkresse und Meerrettichwurzel (Angocin Anti-Infekt N) soll in der Dosierung 3-mal tägl. 3 Tabl. nach dem Essen mit etwas Flüssigkeit eingenommen werden: 10 Tage lang, danach Rücksprache nehmen, bei Verschlechterung sofort.

Verlauf


Die Option Telefonsprechstunde wird nicht wahrgenommen, die Mutter stellt sich nach zwei Wochen in der Sprechstunde persönlich vor. Sie berichtet von einem raschen Rückgang der Schmerzsymptomatik und der Häufigkeit des Wasserlassens bei ihrer Tochter, aktuell bestehen keinerlei Beschwerden mehr, weshalb sie ihrer Tochter die verordneten Tabletten seit 3 Tagen nicht mehr gegeben hat.

Der mitgebrachte Morgenurin der Tochter ergibt als einziges Leuco+ im Uricult, was in der Zusammenschau das Therapieende rechtfertigt. Stand heute ist seit sechs Monaten kein Rezidiv bei dem Mädchen mehr aufgetreten. Dabei ist zu betonen, dass nach Abklingen der Akutsymptomatik sich keine Symptome einer Enuresis entwickelt haben im Vergleich zu vorangegangenen Episoden.

Fazit

Die altersbezogenen Limitierungen auch und gerade pflanzlicher Arzneimittel ist den arzneimittelrechtlichen Vorgaben geschuldet, wonach keine kontrollierten Studien bestimmter Altersgruppen vorliegen; dieser Aspekt ist jedoch systemimmanent in der Pädiatrie und betrifft gleichermaßen chemisch-synthetische Arzneimittel.

Dies schmälert nicht den therapeutischen Stellenwert der Phytotherapie bei gegebener Indikation, zumal pflanzliche Arzneimittel bis zum 12. Lebensjahr zu Lasten der GKV verordnet werden können. Dabei soll erneut ein Aspekt betont werden: die Rezidivrate auch und gerade chronisch-rezidivierender Erkrankungen im Kindesalter lässt sich mit einem phytotherapeutischen Ansatz senken, was in der Folge dabei hilft, Krankheitskosten zu minimieren. Mit einer pragmatischen Herangehensweise sollte die potentielle Bedeutung der Phytotherapie auch in den Leitlinien sichtbarer werden.

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