Eine internationale Forschungsgruppe unter Federführung der Universitätsmedizin Ulm hat einen überraschenden Zusammenhang zwischen einer genetischen Mutation und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei adipösen Menschen aufgedeckt. Trotz starkem Übergewicht weisen Betroffene mit einer seltenen Mutation im Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) niedrigere Cholesterinwerte und ein reduziertes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen auf. Die Ergebnisse wurden im renommierten Fachjournal Nature Medicine veröffentlicht.
Die Forschenden analysierten die genetischen und metabolischen Daten von über 7.700 Menschen mit frühkindlicher, extremer Adipositas. Bei etwa 4 % dieser Betroffenen fanden sie MC4R-Mutationen. Auffällig war, dass Betroffene trotz eines ähnlich hohen Body-Mass-Index wie Kontrollpersonen signifikant niedrigere Werte für Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin und Triglyzeride aufwiesen. Auch der Blutdruck war günstiger. Besonders relevant: Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen war bei Erwachsenen mit MC4R-Mutation deutlich reduziert – ein überraschender Befund, da Adipositas üblicherweise als starker Risikofaktor gilt.
Hintergrund: MC4R und Fettstoffwechsel
Der MC4R ist ein appetitregulierender Rezeptor im Gehirn. Mutationen in diesem Gen sind eine der häufigsten Ursachen für genetisch bedingte Adipositas, insbesondere bei Kindern. In der aktuellen Studie wurden genetische Daten von 7.719 Personen mit frühkindlicher, extremer Adipositas analysiert. Bei 316 Betroffenen und 461 Familienmitgliedern wurden Veränderungen im MC4R-Gen festgestellt. Im Vergleich zu mehr als 330.000 Kontrollpersonen zeigte sich: Trotz ähnlich hohem BMI hatten Menschen mit MC4R-Mutation signifikant bessere Blutfettwerte und einen niedrigeren Blutdruck. Besonders auffällig war die Senkung von Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin („schlechtes Cholesterin“) und Triglyzeriden.
Die Abbildung (siehe unten) illustriert die komplexe Interaktion zwischen Gehirn, Leber und Fettgewebe bei MC4R-Mutationen: Veränderungen im zentralen Nervensystem beeinflussen über autonome Signalwege direkt den Fettstoffwechsel – ein bisher unerwarteter Mechanismus.

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Relevanz für die Diabetologie
Für Diabetologinnen und Diabetologen ist diese Studie aus mehreren Gründen relevant:
- Neue Perspektiven für Prävention und Therapie: Nicht jede Form von Adipositas ist automatisch mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden. Bei Patient:innen mit auffällig günstigen Blutfettwerten trotz Übergewicht könnte ein genetisches Screening auf MC4R-Mutationen sinnvoll sein.
- Personalisierte Medizin: Die Ergebnisse liefern neue Ansatzpunkte für die Entwicklung von Medikamenten, die gezielt den Fettstoffwechsel beeinflussen, ohne den Appetit zu verändern.
- Pathophysiologisches Verständnis: Die Studie unterstreicht die Bedeutung genetischer und biologischer Mechanismen bei der Behandlung von Adipositas und deren Folgeerkrankungen.
Fazit
Die Arbeit unterstreicht, wie wichtig ein tieferes Verständnis der genetischen und biologischen Grundlagen von Adipositas ist. Sie zeigt, dass differenzierte Diagnostik und individualisierte Therapien auch im Bereich der Diabetologie immer wichtiger werden.
Quelle: Universität Ulm (Leipzig, 22. Oktober 2025). Trotz Übergewicht niedrigeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Genetische Veränderung beeinflusst Fettstoffwechsel und Herzgesundheit. [Pressemitteilung].
Originalpublikation: Zorn, S., Bounds, R., Williamson, A. et al. Obesity due to MC4R deficiency is associated with reduced cholesterol, triglycerides and cardiovascular disease risk. Nature Medicine (2025). [Paper]
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