Unter dem Leitthema „Gesellschaft und Gesundheitssystem im Wandel“ lockte die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin rund 1.000 Teilnehmer in die Medizinische Hochschule Hannover. Eine Rekordquote eingereichter Ab-stracts und 400 wissenschaftliche Bei-träge sprachen für sich. Ein perfektes Beispiel für das Kongressthema war eine eigene Veranstaltung zur neuen stationären Allgemeinmedizin.
In zahlreichen Kongressbeiträgen wurde deutlich, dass Gesundheit immer auch gesellschaftlich bedingt ist. Schwierige soziale und ökonomische Rahmenbedingungen zum Beispiel sind eines der größten gesundheitlichen Risiken. So lag ein besonderer Kongressschwerpunkt auf der Begleitung von vulnerablen Zielgruppen – etwa Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie multimorbide Patienten und Menschen in prekären Lebenslagen. In diesen Kontext passte die Veranstaltung zur stationären Allgemeinmedizin perfekt.
STATAMED – eine neue Facette der Allgemeinmedizin

Der Allgemeinarzt, Internist, Akut- und Notfallmediziner Dr. Michael Groening ist ärztlicher Leiter des Medizinischen Versorgungszentrums Groß-Sand in Hamburg-Wilhelmsburg und gleichzeitig ärztlicher Projektleiter STATAMED bei der AOK Rheinland-Hamburg. Das Akronym steht für die stationäre Allgemeinmedizin – eigentlich ein Widerspruch in sich. Und doch ist sie an sechs kleinen Krankenhaus-Standorten bereits Realität. Betten, Visiten und eine ganz normale DRG-Abrechnung gehören dazu. Die Allgemeinmedizin stößt ins Reich der stationären Versorgung vor. In Zeiten überfüllter Notaufnahmen und ruinöser Drehtüreffekte für ältere, polymorbide Patienten ist STATAMED ein Hoffnungsschimmer. Chronisch kranke ältere Menschen benötigen ein stationäres Bett, aber keine hochspezialisierte Fachabteilung. „Die stationäre Allgemeinmedizin erfüllt die primärärztliche Filter- und Steuerfunktion, insbesondere die gegenüber Patient und Gesellschaft verantwortliche Stufendiagnostik und Therapie unter Einbeziehung von Fachspezialisten“, stellte Groening fest.
Der mehrjährige STATAMED-Prozess wird unter Konsortialführung der AOK Rheinland-Hamburg mit der AOK Niedersachsen, der Medizinischen Hochschule Hannover, dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dem Hamburg Center for Health Economics und dem Institute for Health Care Business in Essen umgesetzt. Die Finanzierung erfolgt aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Das Projekt soll 2027 zu Ende gehen. Die klinische Projektphase startete am 1. April 2024 und endet am 31. März 2026. An den sechs Pilot-Standorten sind nach Angaben der Projektleitung bisher rund 2.000 Patienten eingeschrieben. Das Projekt findet an drei städtischen Standorten in sozial benachteiligten Gegenden in Hamburg und Essen sowie an drei ländlichen Standorten in Bad Gandersheim, Sulingen und in Ost-Friesland statt. Allein am Standort Groß Sand in Hamburg-Wilhelmsburg sind mehr als 50 Ärzte bzw. Arztpraxen eingeschrieben.
Zurück zu den Wurzeln. „Ich war vor rund zehn Jahren Notaufnahme-Leiter im Hamburger Albertinen Krankenhaus“, erinnerte sich Michael Groening. Die gängige Erzählung sei ja, dass vor allem junge Leute, die keinen Hausarzt- oder Facharzt-Termin erhalten, am Wochenende in die Notaufnahmen pilgern, um Banalitäten behandeln zu lassen. „Von 2006 bis 2019 gab es im Albertinen-Krankenhaus einen exorbitanten Anstieg der Fallzahl. Als ich anfing, hatten wir 23.000 Patienten, am Ende waren es 40.000 Patienten.“ Tatsache sei, dass sich der Anteil der älteren Patienten deutlich überproportional erhöht habe.
Es ging um ältere Patienten mit Dehydration (Exsikkose) oder fieberhaften Harnwegsinfekten. Das Ende der Geschichte war, dass sie nach bis zu 14 Stunden in der Notaufnahme nachts um 2 Uhr wieder entlassen wurden. Die Alternative war, dass diese Patienten 14 Tage durch Fachabteilungen geisterten, ohne dass ein wirkliches Ergebnis erzielt wurde. Wegen Schwindelproblemen, die der Hausarzt schon lange kannte, wurde ein Neuro-Konsil inklusive MRT gemacht. Die Anämie wurde dann auch noch in der Gastroenterologie abgeklärt. „Unter dem Strich wurden diese Patienten entweder gar nicht versorgt oder aber überversorgt“, unterstrich Groening.
INKA war der Einstieg in die stationäre Allgemeinmedizin
„Das ist gar nicht gut, da muss sich etwas ändern“, dachte sich Groening. 2018 veröffentlichte der ärztliche Leiter eine Studie im Deutschen Ärzteblatt über die Fehlversorgung älterer, polymorbider Patienten mit bundesweiten Daten. Das war offenbar überzeugend. Auf der allgemeinmedizinisch konzipierten Kurzliegerstation (INKA) im Albertinen-Krankenhaus standen 25 Betten bereit, um Patienten mit typischen Chroniker-Diagnosen wie COPD, dekompensierte Herzinsuffizienz oder Exsikkose zu versorgen. Nach kurzer Verweildauer kehrten sie nach Hause zurück. Da die Kunst des Weglassens zu einer angemessenen Behandlung führte, erhielt Groening prompt den Innovationspreis im deutschen Gesundheitswesen. Der Anfang war gemacht. Aus INKA wurde STATAMED. In der Krankenhausreform gibt es die Level 1i-Krankenhäuser als Basis-Versorger ohne Notaufnahme. Die STATAMED-Piloten passen perfekt zu den politisch gesetzten Mustern des „Intersektoralen Versorgungszentrums“ oder des „Regionalen Gesundheitszentrums“. Aus der Perspektive des Allgemeinarztes ist STATAMED besser als der stationäre Kahlschlag auf dem Land. Weite Wege und ausgedünnte Versorgung wären die Folgen. Zudem werde die Überlastung der Notaufnahmen weiter steigen, wenn nicht Ventile gegen den Überdruck eingebaut werden.
Nicht jeder Schwindel braucht den Neurologen
„Als Allgemeinarzt kann ich doch den Schwindel einmal ohne den Neurologen behandeln. Ähnliches gilt auch für die dekompensierte Herzinsuffizienz. Ich brauche keinen Herzkatheter vom Kardiologen“, redete Groening Klartext. Zur stationären Allgemeinmedizin gibt es bereits eine Meta-SOP (Standard Operating Procedure), die Behandlungspfade präzise definiert und die auf der aktuellen Fachdefinition der DEGAM basiert. Es geht darum, den Patienten vor einer Fehlversorgung zu schützen. Die ganzheitliche Allgemeinmedizin wird zum Leitfaden dieser stationären Grundversorgung, die im HighTech-Betrieb der Krankenhäuser verloren gegangen ist.
Ambulant-stationärer Wissenstransfer ist der Schlüssel
Schlüsselelement des Behandlungspfads ist ein Zuweisungsgespräch zwischen Hausarzt und leitendem Arzt bei STATAMED. „Es geht um den ambulant-stationären Wissenstransfer – das ist der eigentliche Kern von STATAMED“, unterstrich Groening. Die stationäre Versorgung entspreche der Regelversorgung, nur dass es regelmäßig Visiten des leitenden Arztes und des Teams – erweitert um Flying Nurses und Patientenlotsen zur prästationären Sichtung bzw. poststationären Nachbetreuung, gebe. „Die sozialmedizinischen Belange des Patienten sollen besondere Beachtung finden.“ STATAMED-Patienten benötigen ein stationäres Krankenhaus, aber keine Notaufnahme. Manchmal können Lösungen auch einfach sein.
Autor: Franz-Günter Runkel
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