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Typ-1-Diabetes vor Manifestation erkennen: Neue Chancen für eine optimale Versorgung

Typ-1-Diabetes vor Manifestation erkennen: Neue Chancen für eine optimale Versorgung

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Die Prävention diabetischer Ketoazidosen und der Erhalt der Betazellfunktion sind zentrale Ziele in der Versorgung von Kindern mit Typ-1-Diabetes. Neue Screening-­Programme ermöglichen die ­Identifikation präsymptomatischer Stadien und bieten damit die ­Chance, frühzeitig zu intervenieren.

Aktuell leben in Deutschland 32.000 Kinder und Jugendliche sowie 340.000 Erwachsene mit Typ-1-Diabetes. Die Inzidenz des Typ-1-Diabetes steigt insgesamt und im Besonderen bei Kindern und Jugendlichen. Er ist damit eine der häufigsten Stoffwechselerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Dennoch liegt die Inzidenz der diabetischen Ketoazidose (DKA) bei Diagnosestellung seit Jahren bei etwa 30  %, mit einem zuletzt sogar anstei­genden Trend. Die einzige Behandlungsoption für die T-Zell-vermittelte Autoimmunerkrankung stellt die Substitution des fehlenden Insulin dar. Die Erkran­kung kann in jedem Alter auftreten. Bei einer Manifestation bei sehr jungen Menschen vor dem zehnten Lebensjahr führt dies zu einer kürzeren Lebenser­wartung von 14,2 Jahren (95 % KI 12,1– 18,2) bei Männern und 17,7 Jahren (95 % KI, 14,5 – 20,4) bei Frauen.

Der Typ-1-Diabetes verläuft in Stadien

Heute ist bekannt, dass der Typ-1-Diabetes als Autoimmunerkrankung in mehreren Stadien verläuft. Häufig wird der Typ-1-Dia­betes erst im behandlungspflichtigen Stadium 3 erkannt. Die klassischen Symptome sind ständiger Durst (Polydipsie), vermehrtes Wasserlassen (Polyurie) und Gewichtsverlust. Zu diesem Zeitpunkt produzieren nur noch etwa 15 bis 20 % der Betazellen Insulin. Der Autoimmunprozess hat aber bereits deutlich früher begonnen. Große Studien haben gezeigt, dass das Frühstadium des Typ-1-Diabetes, das durch den Nachweis multipler diabetesassoziierter Antikörper definiert ist, häufig bereits in den ersten Lebensjahren diagnostiziert werden kann. Ein Stadium 1 eines Typ-1-Diabetes liegt beim Nachweis von mind. zwei diabetesassoziierten Autoantikörpern und einer normoglykämen Stoffwechsellage vor. Die Progressionsrate in das behandlungspflichtige Stadium 3 beträgt 44 % innerhalb von fünf Jahren und 80–90 % innerhalb von 15 Jahren. Im (weiter asymptomatischen) Stadium 2 liegt bereits eine Dysglykämie mit teilweise erhöhten Glukosewerten vor, die aber noch nicht behandlungspflichtig ist. Die Progressionsrate in das hyperglykäme Stadium 3 beträgt dann 75 % innerhalb von fünf Jahren. Eine Datenauswertung von fünf prospektiven Kohortenstudien aus Deutschland (BABYDIAB), Finnland (DIPP), Schweden (DiPiS) und den USA (DAISY und DEW-IT) ergab, dass durch eine zweimalige Antikörpertestung, optimalerwei­se im Alter von zwei und sechs Jahren, über 80 % der klinischen Manifestationen eines Typ-1-Diabetes bis zum Alter von 15 Jahren vorausgesagt werden können.

Möglichkeit der Früherkennung in Deutschland: Fr1da plex

In Deutschland ist eine solche Früherkennung über die Fr1da-Studie möglich. Neben bereits etabliertem Studienangebot durch die Studien »Fr1da in Bayern«, »Fr1da in Sachsen« und »Fr1da im Norden« (Niedersachsen, Hamburg) gibt es seit Mai 2025 nun eine Erweiterung auf eine Fr1da Früherkennung in Hessen und Rheinland-Pfalz. Darüber hinaus ist die Ausweitung von »Fr1da im Norden« auf Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpom­mern und Schleswig-Holstein geplant. Gemeinsam bilden sie das deutsche Früherkennungsnetzwerk »Fr1da plex«, welches noch um die bundesweite Früherkennung auf Typ-1-Dia­betes bei nahen Verwandten einer Person mit Typ-1-Diabetes (Elternteil, Geschwisterkind) erweitert ist. Die Fr1da-Studie ist ein kostenloses Angebot, Kinder im Alter zwischen 1,75 und 10 Jahren hinsichtlich diabetesspezifischer Antikörper zu untersuchen und ein Frühstadium des Typ-1-Diabetes nachzuweisen, bevor klinische Symptome auftreten. Dafür wird nach kinderärztlicher Aufklärung einmalig kapillär oder venös Blut abgenommen und auf das Vorhandensein von multiplen Autoantikörpern gegen Insulin (IAA), Glutamatdecarboxylase (GADA), Insulinoma-assoziiertes Antigen 2 (IA-2A) und Zinktransporter 8 (ZnT8A) untersucht. Werden multiple (≥ 2) Antikörper nachgewiesen, wird eine zweite venöse Blutprobe entnommen zur sicheren Bestätigung des Befundes eines Frühstadiums eines Typ-1-Diabetes.

Was passiert bei einem positiven Screeningbefund?

Liegt ein positiver Befund vor, vermitteln die behandelnden Ärztin­nen und Ärzte die Familien an das nächstliegende Fr1da-Zentrum. Bei Vorliegen eines Frühstadiums eines Typ-1-Diabetes werden die Familien zeitnah nach der Befundübermittlung in einem wohnortnahen Diabeteszentrum oder im Fr1da-Zentrum geschult. Es erfolgen eine multidisziplinäre Behandlung und eine Aufklärung über den Typ-1-Diabetes, seinen natürlichen Verlauf und die diabetesspezifischen Symptome. Bei Bedarf wird auch eine psycho­logische Unterstützung vermittelt. Weiterführende Untersuchungen (wie HbA1c, oraler Glukosetoleranztest) definieren das aktuelle Stadium. So können individuell der Nachsorgeplan für jedes Kind aufgestellt werden (z.B. Gelegenheitsblutzuckmessungen, Blutzuckertagesprofile, (geblindete) kontinuierliche Glukosemessung) und weitere Termine im Diabeteszentrum vereinbart werden. Etwa 70 % der Kinder mit multiplen diabetesspezifischen Antikörpern entwickeln einen insulinpflichtigen Typ-1-Diabetes innerhalb von zehn Jahren.

Die Teilnahme an der Fr1da-Studie ist nicht nur für Kinder mit Verwandten mit einem Typ-1-Diabetes, sondern für alle Kinder sinnvoll, da etwa 90 % aller Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes keinen ebenfalls betroffenen nahen Familienangehörigen haben.

Chancen der Früherkennung

1. Häufigkeit der diabetischen Ketoazidose bei Manifestation reduzieren
Besteht bei Manifestation des Stadiums 3 des Typ-1-Diabetes eine diabetische Ketoazidose, birgt diese nicht nur akute Risiken, sondern hat auch langfristige negative Auswirkungen auf die Stoffwechsellage und die Neurokognition von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Kinder und Jugendliche ohne diabetische Ketoazidose bei Diagnosestellung haben auch noch 15 Jahre nach Manifestation eine bessere Stoffwechsellage mit niedrigerem HbA1c-Wert und damit niedrigerem ­Risiko für Folgeerkrankungen als Kinder mit diabetischer Ketoazidose bei Manifestation. Das sich in der Entwicklung befindende Gehirn der Kinder und Jugendlichen gilt es vor Schäden zu schützen. Bei Kindern zwischen sechs und acht Jahren waren auch noch bis zu vier Jahre nach einer Ketoazidose bei Diagnosestellung eine niedrigere kognitive Leistung und ein verändertes Gehirnwachstum nachweisbar. Insbesondere bei Kleinkindern (drei bis fünf Jahre) ist in einer weiteren Studie unabhängig vom sozioöko­no­mischen Status und der Herkunft nach DKA ein signifikant niedrigerer IQ festgestellt worden. Junges Alter und ein niedriger pH-Wert bei Manifestation erhöhen das Risiko für cMRT-Veränderungen und Auffälligkeiten in der Kognition. Die Verhinderung einer Ketoazidose stellt daher ein wichtiges Ziel für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes dar. Trotz verschiedener Anstrengungen weist in Deutschland etwa jedes vierte Kind bei Manifestation der Erkran­kung eine diabetische Ketoazidose auf. Kinder aus Früherkennungsstudien mit Antikörpernachweis haben ein niedrigeres Risiko, bei Manifestation eine diabetische Ketoazidose zu entwickeln. So lag die Rate an diabetischen Ketoazidosen bei Manifestation bei Kindern, die an der Fr1da-Studie teilgenommen hatten, bei 2,5 %. Kürzlich publizierte Daten aus Italien zeigen, dass in Regionen, in denen ein Screening für Früherkennung eines Typ-1-Diabetes und Zöliakie (D1Ce) implementiert wurde, die DKA-Rate um 26 % niedriger und die Rate an schweren DKA sogar um 49 % niedriger lag als in Regionen ohne Teilnahme an dem Projekt.

2. Glykämische Kontrolle verbessern durch frühe Diagnosestellung
Neben der Verhinderung der diabe­ti­schen Ketoazidose ist eine frühe Diag­nosestellung des Stadium 3 das Ziel. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass so die Betazellfunktion erhalten und die sog. „Erholungsphase“ (Remission) mit stabilerer Stoffwechsellage verlängert werden kann. Daten aus der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV) zeigen: Je früher die Manifestation erkannt wird, desto niedriger ist die glykämi­sche Stoffwechsellage, desto häufiger kommt es zu einer Remission und desto niedriger ist der Insulinbedarf auch noch 3 Jahre nach Diagnosestellung. Kinder aus der Fr1da-Studie wiesen bei Diagnosestellung einen höheren C-Peptidspiegel auf als Kinder der Vergleichsgruppe.

Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes erhalten in Deutschland im Allgemeinen Zugang zur besten aktuell verfügbaren Insulintherapie (automatische Insulindosierung). Hierbei werden Glukosewerte einer kontinu­ier­lichen Glukosemessung genutzt, um durch einen Algorithmus die notwendige Insulinanpassung berechnen zu lassen. Die Verbesserung der Technisierung in diesem Umfeld geht mit einer gesteigerten Lebensqualität und einer optimierten Stoffwechselsituation einher. Dennoch trägt diese Therapie nicht zu einem Betazellerhalt bei. Auch die beste ­Insulintherapie kann aktuell also nicht den autoimmuno­logischen Prozess des Betazellzerfalls aufhalten oder verändern, sondern führt unweigerlich zu einer absoluten Abhängigkeit von extern zugeführtem Insulin.

3. Einfluss auf die Psyche
Die Diagnosestellung im Frühstadium ermöglicht es, die Familien durch ein strukturiertes Schulungs- und individuelles Vorsorgeprogramm optimal weiter zu betreuen. Die Diagnose kann verarbeitet werden, bevor sie eine Umstellung des Alltags bedeutet. Ziel ist dann, den Übergang in das Stadium 3 früh zu erkennen und Akut-/ Notfallsituationen durch eine Stoffwechselentgleisung zu verhindern. Denn Letztere führt nicht nur zu einer körperlichen Beeinträchtigung, sondern stellt auch eine psychische Herausforderung für die ganze Familie dar. Eine akute stationäre Behandlung, möglicherweise sogar auf der Intensivstation, das Erlernen der Insulintherapie sowie die Therapiesicherstellung zu Hause und in der Fremdbetreuung sind Belastungsfaktoren, die alle gleichzeitig und innerhalb kürzester Zeit bewältigt werden müssen.

In einer Fr1da-Kohorte wiesen Mütter, deren Kinder einen Typ-1-Diabetes im Frühstadium hatten, eine höhere psychische Belastung auf als Mütter, bei deren Kindern kein Typ-1-Diabetes im Frühstadium bekannt war. Im Verlauf nahm diese Belastung jedoch ab und unterschied sich nach sechs bzw. zwölf Monaten bei über 90 % der Mütter nicht mehr von der Allgemeinbevölkerung. Im Vergleich zu Eltern, bei deren Kindern unerwartet ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde (ohne dass zuvor ein Frühstadium bekannt war), war die psychische Belastung bei Eltern mit Typ-1-Diabetes im Frühstadium geringer. Selbstverständlich gibt es auch ein Recht auf Nichtwissen. Dieses sollte im Aufklärungsgespräch vor der Blutentnahme besprochen werden, sodass Familien in Ruhe Nutzen und Risiken der Untersuchung abwägen können.

Neue Behandlungsoptionen

Die Forschung schreitet im Bereich der Prävention und Therapie des Typ-1-Diabetes mit großen Schritten voran. Die Idealvorstellung, Typ-1-Diabetes heilen oder verhindern zu können, ist derzeit noch keine gelebte Realität. Allerdings konnte in einer Phase-I/II-Studie infolge allogener Stammzelltransplantation in zwölf Studienteilnehmenden mit seit mindestens fünf Jahren ­bestehendem Typ-1-Diabetes eine endogene Insulinpro­duktion ohne die Zugabe von externem Insulin ein Jahr nach Transplantation nachgewiesen werden. Durch eine Diagnosestellung im Frühstadium entsteht die Möglichkeit, an Primär- und Sekundärpräventionsstudien teilzunehmen. Im aktuellen wissenschaftlichen Fokus steht die Immunmodulation in den Stadien 1–3 als vielversprechende Option, die Betazell-Funktion zu erhalten.

Im November 2022 wurde von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde für Personen ab einem Alter von acht Jahren ein Medikament zugelassen, welches das Auftreten des insulinpflich­tigen Stadium 3 des Typ-1-Dia­betes verzögern soll. Es handelt sich um Teplizumab, einen humanisierten Anti-CD3 monoklonalen Antikörper, der an den T-Zell-Rezeptor bindet und dadurch die diabetesassoziierte Autoimmunität verringert. In einer Studie mit Personen im Stadium 2 konnte durch einen 14-tägigen Therapiezyklus mit täglichen intravenö­sen Teplizumabgaben der Übergang in das Stadium 3 im Mittel um 2,7 Jahre verzögert werden. Durch eine verbesserte Funktion der Betazellen bestand erst später ein Bedarf an extern zugeführtem Insulin.

In Deutschland und Europa ist das Medikament aktuell noch nicht zuge­lassen (Stand Oktober 2025). Seit November 2024 ist es im Rahmen des Härtefall-Programms des Paul-Ehrlich-Instituts für Betroffene ab acht Jahren verfügbar. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines Typ-1-Dia­betes im Stadium 2, also der Nachweis von mind. zwei diabetesspezifischen Antikörpern sowie einer Dysglykämie, die anhand verschiedener Kriterien gesichert wird. Die Diagnosestellung des Typ-1-Dia­betes im Frühstadium ermöglicht damit nicht nur die Vorbereitung der Familien auf die Erkrankung, die Vermeidung einer Keto­azidose bei Manifestation mit langfristigen Folgen für die Kognition und die Risikominimierung für Folgeerkrankungen durch jahrelange bessere Stoffwechseleinstellung, sondern ggf. in Zukunft auch die Einflussnahme auf den zeitlichen Verlauf der Erkrankung.

Schlussfolgerungen

  • Der Typ-1 Diabetes verläuft in drei Stadien.
  • Eine Diagnosestellung vor Auftreten von Symptomen ist möglich (in Deutschland in Rahmen von Studien: Fr1da).
  • Die Früherkennung führt zu einer drastischen Senkung der Rate diabetischer Keto­azidosen bei Manifestation.
  • Nach einer frühen Diagnosestellung besteht eine bessere Stoffwechsellage auch noch Jahre nach der Manifestation.
  • Die Früherkennung ermöglicht den Zugang zu neuen Behandlungsoptionen oder ­Studien.

Autorin: Dr. med. Mareike Niemeyer

Bildquelle: Halfpoint – stock.adobe.com

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