Angesichts aktueller Herausforderungen im Gesundheitssystem wird der Aufbau moderner, digital unterstützter Versorgungsstrukturen immer wichtiger. Der demografische Wandel erhöht den Bedarf an medizinischer Betreuung, während gleichzeitig immer weniger Hausärzte verfügbar sind und die Patientenzufriedenheit sinkt [1][2].
Nierenkoliken stellen ein häufiges und klinisch relevantes urologisches Notfallbild dar und führen jedes Jahr zu mehreren hunderttausend Vorstellungen in deutschen Notaufnahmen [3]. Dennoch erfolgt die initiale Versorgung häufig uneinheitlich, mit unnötigen Antibiotikagaben sowie einer unvollständigen Diagnostik, etwa in Form fehlender Urinuntersuchungen und einer verzögerten Durchführung einer bildgebenden Diagnostik [4]. Diese inkonsistente Versorgungspraxis führt nicht nur zu einer erhöhten Belastung der Notaufnahmen, sondern auch zu verlängerten Wartezeiten und vermeidbaren Kosten.
Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen in der modernen Gesundheitsversorgung haben wir ein KI-basiertes klinisches Entscheidungsunterstützungssystem entwickelt: die Kidney APP.
Entwicklung der Kidney APP
Zur Erstellung der Kidney APP entwickelten wir zunächst einen strukturierten Entscheidungsbaum, der die klinische Entscheidungsfindung anhand vordefinierter primärer und sekundärer Handlungsempfehlungen unterstützt.
Die primären Empfehlungen der App umfassen die Harnableitung, die Durchführung bildgebender Diagnostik, die stationäre Aufnahme zur Überwachung sowie die retrograde Ureteropyelographie. Zu den sekundären Empfehlungen gehören unter anderem die Beurteilung der Nierenperfusion und die Überweisung des Patienten an andere Fachdisziplinen.
Für jede dieser Empfehlungen wurde eine Kombination aus Laborparametern, klinischer Untersuchung, Anamnese und bildgebenden Befunden herangezogen und so systematisch strukturiert, dass die App daraus automatisiert eine Empfehlung ableiten kann.
Auf Basis der Entscheidungsbaum-Logik entwickelten wir eine webbasierte Anwendung, die Kidney APP (▶ Abb. 1), in der alle relevanten Patienteninformationen eingegeben werden können. Die Erkennung einer Hydronephrose wurde dabei automatisiert mithilfe eines vortrainierten neuronalen Netzes (AlexNet) implementiert, welches Nierensonographien analysiert.
Zur Validierung der Funktionalität testeten wir alle Entscheidungsbaum-Äste, indem wir für jede mögliche Konstellation fiktive Fallbeispiele erstellten. Die von der Kidney APP generierten Empfehlungen wurden anschließend mit den Entscheidungen der an der Entwicklung beteiligten Urologen verglichen, um die Übereinstimmung mit der klinischen Expertise sicherzustellen. Beispielsweise wurde in der APP folgender Fall eingetragen:
Ein Patient mit linksseitigen Flankenschmerzen, einer Körpertemperatur von 38,7 °C, einem Puls von 89 / min und einem Blutdruck von 115 / 60 mmHg, der weder eine Nierensteinvorgeschichte noch vorangegangene CT-Untersuchungen aufwies. In der automatisierten AlexNet-Analyse der Nierensonographie wurde eine Nierenbeckenkelchektasie links festgestellt (▶ Abb. 2); gleichzeitig zeigten sich im Urinstatus Erythrozyten (75 / µl) sowie im Labor deutlich erhöhte Entzündungs- und Retentionsparameter (Leukozyten 25 × 109 / l, CRP 250 mg/l, Kreatinin 1,9 mg / dl).
Trotz analgetischer Therapie persistierten die Schmerzen, sodass die Kidney APP – in Übereinstimmung mit der klinischen und laborchemischen Einschätzung – eine sofortige Harnableitung empfahl.
Da es sich um eine KI-basierte Anwendung handelt, wurde zur Prüfung der Robustheit auch ein ‚worst case‘-Szenario simuliert: Hierbei wurde die Genauigkeit der AlexNet-Analyse hypothetisch auf 0 % gesetzt, also so, als ob die Nierenbeckenkelchektasie nicht erkannt würde.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 34 generierte Testfälle analysiert, die jeweils unterschiedliche klinische Parameter enthielten. Ein spontaner Steinabgang wurde in 10 Fällen (29,4 %) beobachtet, während bei 24 Fällen (70,6 %) kein spontaner Abgang dokumentiert wurde.
Die Nierensonographie zeigte bei 19 Fällen (55,9 %) unauffällige Befunde, während bei 15 Fällen (44,1 %) eine Ektasie nachgewiesen wurde. Im Urinstatus fanden sich Erythrozyten bei 19 Fällen (55,9 %), während 15 Fälle (44,1 %) keine Erythrozyturie aufwiesen. Leukozyten waren in 16 Fällen (47,1 %) nicht nachweisbar, hingegen in 18 Fällen (52,9 %) vorhanden. Nitrit war in 32 Fällen (94,1 %) negativ und nur in 2 Fällen (5,9 %) positiv.
Die Laborwerte zeigten einen mittleren Leukozytenwert von 12,55 × 109 / l (SD = 5,38), einen mittleren CRP-Wert von 27,22 mg / l (SD = 42,06) sowie einen mittleren Kreatininwert von 1,20 mg / dl (SD = 0,37). Die Vitalparameter umfassten eine mittlere Körpertemperatur von 36,75 °C (SD = 0,50), eine mittlere Pulsfrequenz von 76,09 / min (SD = 11,13) sowie einen mittleren systolischen Blutdruck von 135,03 mmHg (SD = 18,03) und einen mittleren diastolischen Blutdruck von 79,35 mmHg (SD = 7,36).
Insgesamt schlug die App in 14 Fällen (41,2 %) die Durchführung einer CT-Untersuchung vor. In 6 Fällen (17,6 %) empfahl sie eine rein ärztliche Untersuchung ohne unmittelbare Bildgebung, und in 8 Fällen (23,5 %) eine retrograde Ureteropyelographie mit Einlage einer DJ-Schiene.
Die Erkennung der Nierenbeckenkelchektasie mittels AlexNet zeigte dabei in allen Fällen eine Genauigkeit von 100 %.
In einer worst-case-Szenario-Analyse (AlexNet-Genauigkeit hypothetisch 0 %) wurden mögliche Fehlzuordnungen evaluiert. Hierbei zeigte sich, dass die App in einzelnen Fällen eine retrograde Ureteropyelographie anstelle einer CT-Untersuchung oder eine weiterführende Computertomographie anstelle einer Entlassung bei geringem Risiko für einen Ureterstein empfohlen hätte.
Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass die Kidney APP in der überwiegenden Mehrheit der Fälle klinisch nachvollziehbare Empfehlungen generiert und potenzielle Fehlentscheidungen in einem realistischen klinischen Setting nur selten auftreten würden.
Diskussion
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (Clinical Decision Support Systems, CDSS) sind digitale Systeme, die Ärztinnen und Ärzte bei der Entscheidungsfindung im klinischen Alltag unterstützen [5].
Sie verknüpfen patientenspezifische Daten – wie Anamnese, Laborwerte, Vitalparameter und bildgebende Befunde – mit medizinischem Fachwissen, z. B. aus Leitlinien oder statistischen Modellen, und generieren daraus konkrete Handlungsempfehlungen. Ziel ist es, diagnostische und therapeutische Entscheidungen zu standardisieren, Fehler zu vermeiden und die Versorgungsqualität zu verbessern, insbesondere unter Zeitdruck oder bei komplexen Fallkonstellationen.
Dass CDSS klinisch relevante Verbesserungen ermöglichen können, zeigte beispielsweise die randomisiert kontrollierte Studie von Neugebauer et al. [5]: Hier konnte durch den Einsatz eines CDSS die Diagnoserate und leitliniengerechte Antibiotikatherapie bei Pyelonephritiden signifikant gesteigert werden.
Während in der Kontrollgruppe, die aus einer gemischten Gruppe von Medizinstudierenden und Ärzt*innen bestand, lediglich 27 % der Teilnehmenden die korrekte Diagnose stellten und nur 19 % eine adäquate Antibiotikatherapie verordneten, erreichten mit CDSS-Unterstützung 57 % eine korrekte Diagnose und 40,5 % eine leitlinienkonforme Therapie. Dieses Beispiel unterstreicht das Potenzial von CDSS, selbst bei häufigen Krankheitsbildern die Versorgungsqualität deutlich zu erhöhen.
Im Vergleich zu solchen klassischen CDSS, die primär regelbasiert arbeiten und vor allem leitlinien-konforme Empfehlungen generieren, geht die Kidney APP einen Schritt weiter: Sie kombiniert eine strukturierte Entscheidungsbaum-Logik mit einer KI-basierten Bildanalyse (AlexNet) und integriert damit sowohl klinische als auch bildgebende Parameter in den Entscheidungsprozess [6].
Während bisherige CDSS in der Urologie vor allem im onkologischen Bereich oder zur Bildauswertung eingesetzt werden, adressiert die Kidney APP mit der standardisierten Ersteinschätzung bei Verdacht auf Nierenkolik ein bislang unterrepräsentiertes Anwendungsszenario [7].
Durch die Kombination multipler Datenebenen ermöglicht sie eine patientenindividuelle Risikoeinschätzung und kann so eine rasche und evidenzbasierte Versorgung unterstützen. Für den zukünftigen klinischen Einsatz sind eine prospektive Validierung, die Einbettung in bestehende Workflows sowie die Sicherstellung der Transparenz der Entscheidungsprozesse essenziell.
Damit stellt die Kidney APP einen innovativen Lösungsansatz für zentrale Herausforderungen des derzeitigen Gesundheitssystems dar: Sie kann bei steigenden Patientenzahlen und limitierter ärztlicher Verfügbarkeit dazu beitragen, die Erstbeurteilung von Patienten mit Nierenkolik zu beschleunigen, diagnostische Abläufe zu standardisieren und unnötige Untersuchungen oder Hospitalisierungen zu vermeiden – und so die Notaufnahmen gezielt entlasten und die Versorgungsqualität verbessern.
Literatur unter www.uroforum.de



