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Interview: Vom Alltag zur Eigenkompetenz – Das Erfolgsrezept von DiaVitalis

Interview: Vom Alltag zur Eigenkompetenz – Das Erfolgsrezept von DiaVitalis

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mgo medizin

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Erschienen in: diabetes heute

Das Versorgungskonzept „DiaVitalis“ bietet Menschen mit Typ-2-Diabetes ein innovatives, praxisnahes Programm zur Förderung von Selbstmanagement, Ernährungskompetenz und Bewegung. Im Mittelpunkt stehen individuelle Beratung, der Einsatz moderner Technologien wie CGM und BIA sowie die Stärkung der Eigenverantwortung. Im Interview berichten Dr. Heike Niemeier, Ernährungswissenschaftlerin, und Michael Wirtz, Vorsitzender der DiabetesHilfe Nord e. V., über die Entstehung und die Inhalte des Programms – und geben Einblicke in Herausforderungen, Erfolge und Pläne für die Zukunft.

Wie entstand die Idee für DiaVitalis und welche spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Typ-2-Dia­betes sollen damit angesprochen werden?
Michael Wirtz: DiaVitalis entwickelte sich aus der Beobachtung, dass bestehende Disease-Management-Programme (DMP) für Diabetes häufig nicht ausreichen, um Betroffene wirklich zu befähigen und zu motivieren. Gerade Menschen mit Typ-2- Diabetes werden bei der Versorgung mit CGM-Systemen bisher oft benachteiligt. Viele müssen sich die Geräte selbst finanzieren, obwohl das unmittelbare Biofeedback für das Selbstmanagement enorm wertvoll ist. Unser Ziel war es, ein Kurzinterventionsprogramm zu entwickeln, das Theorie und Praxis verbindet und die Teilnehmenden in ihrer Eigenverantwortung stärkt.

Dr. Heike Niemeier, Ernährungswissenschaftlerin und Leiterin
der Praxis essenZ in Hamburg ©privat

Dr. Heike Niemeier: Für mich stand das Thema Empowerment im Vordergrund. Jede Ernährungstherapie funktioniert nur, wenn sie langfristig und eigenständig umgesetzt wird. Deshalb wollten wir die Teilnehmenden nicht nur beraten, sondern ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um selbst aktiv zu werden – etwa durch die kontinuierliche Glukosemessung und die BIA-Messung. Die soziale Einbindung, etwa durch Kochevents, spielt ebenfalls eine große Rolle. Besonders motivierend war es zu sehen, wie auch Menschen, die bislang wenig Berührungspunkte mit gesunder Ernäh­rung hatten, neue Erfahrungen machten – zum Beispiel ein über 80-jähriger Teilnehmer, der zum ersten Mal in seinem Leben selbst in der Küche stand und mit Begeisterung ein einfaches, gesundes Gericht zubereitete.


Warum wird die bioelektrische Impedanzanalyse im Programm eingesetzt?
Dr. Heike Niemeier: Die BIA-Messung ist ein zentrales Element im Programm. Sie ermöglicht es, Veränderungen bei Muskelmasse, Körperfett und insbesondere viszeralem Fett einfach und anschaulich zu erfassen. Gerade das viszerale Fett ist ein entscheidender Risikofaktor, lässt sich aber von außen nicht erkennen. Die BIA ist im Vergleich zu anderen Methoden wie MRT oder Infrarotmessung praxistauglich, kostengünstig und für die Teilnehmenden leicht verständlich. Sie erhalten so ein direktes Feedback über die Auswirkungen ihrer Ernährung und Bewegung. Viele Teilnehmende waren überrascht, wie sehr sich schon kleine Veränderungen im Alltag auf die Körperzusam­men­setzung auswirken können.


Wie unterstützt DiaVitalis die Teilnehmenden bei der Ernährung und welchen Einfluss hat das auf die langfristige Kontrolle von Typ-2-Diabetes?
Dr. Heike Niemeier: Unsere Ernährungsberatung ist sehr individuell: Wir berücksichtigen persönliche Vorlieben, Kochfähigkeiten, Diäthistorien und Alltagsroutinen. Es bringt wenig, nur zu sagen, was man nicht essen soll. Wir zeigen konkrete Alternativen auf, etwa proteinreiche, kohlenhydratärmere Gerichte, die einfach zuzubereiten sind und den Blutzuckerspiegel stabil halten. Die Ernährung ist ein Schlüsselfaktor für die langfristige Kontrolle von Typ-2-Diabetes – insbesondere, um den Blutzucker nach dem Essen, den Nüchternwert und auch den Langzeitwert HbA1c zu beeinflussen.


Welche Bewegungsempfehlungen gibt es bei DiaVitalis– und wie fördern sie die metabolische Gesundheit?

Michael Wirtz, Vorsitzender der Diabetes-Hilfe Nord e. V. ©privat

Michael Wirtz: Wir setzen auf alltagsnahe Bewegung und den Erhalt der Muskulatur. Viele Teilnehmende denken bei Bewegung sofort an Sport, aber es geht um machbare, regelmäßige Aktivität – etwa Aquagymnastik, Spaziergänge oder Übungen mit Wasserflaschen oder Therabändern zu Hause. Entscheidend ist, dass Bewegung Freude macht und in den Alltag passt. Schon kleine Veränderungen, wie öfter die Treppe zu nehmen, können viel bewirken. Ziel ist es, den Muskelerhalt zu fördern, denn die Muskulatur ist der wichtigste Zuckerabnehmer im Körper. Besonders motivierend war die Erfahrung eines Teilnehmers, der sich vornahm, wieder mit dem Fahrrad zu fahren, weil er wusste, dass seine Enkelkinder sich darüber freuen würden. Wir versuchen immer, solche individuellen Motivationsfak­toren zu erkennen und zu fördern.


Gibt es spezifische biometrische oder klinische Parameter, die zur Bewer­tung der Wirksamkeit des DiaVitalis-Programms eingesetzt werden?
Dr. Heike Niemeier: Wir erfassen regelmäßig BIA-Daten (Muskelmasse, viszerales Fett), CGM-Werte (Nüchtern- und postprandialer Blutzucker) und nutzen Fragebögen zur Lebensqualität und zum Selbstmanagement. Die Daten werden individuell mit den Teilneh­menden besprochen, aber im Rahmen des Pilotprojekts nicht systematisch für offizielle Studien ausgewertet. Wir beobachten jedoch, dass viele Teilneh­mende durch das unmittelbare Feedback motiviert sind und Verän­de­run­gen bei Blutzuckerwerten und Körperzusammensetzung erreichen. Gerade die Möglichkeit, die eigenen Werte „live“ auf dem Handy zu sehen, hat bei vielen einen regelrechten Spieltrieb ausgelöst – die Teilnehmenden wollten genau wissen, wie sich ein Spaziergang oder eine Mahlzeit direkt auf ihren Blutzucker auswirkt.


Wie sieht die Nachbetreuung der Teilnehmenden nach Abschluss des vierwöchigen Programms aus?
Dr. Heike Niemeier: Nach etwa zehn bis zwölf Wochen laden wir die Teilnehm­enden zu einer erneuten BIA-Messung und einem persönlichen Gespräch ein. Diese Nachbetreuung bietet die Möglichkeit, Erfolge zu reflektieren, neue Ziele zu setzen und bei Schwierigkeiten Unterstützung zu erhalten. Die hohe Teilnahmequote zeigt, wie wertvoll dieses Angebot ist. Viele Teilnehmende schätzen es sehr, dass sie auch nach Abschluss des Programms nicht allein gelassen werden und weiterhin Ansprechpartner haben.


Welche langfristigen Ziele verfolgt das DiaVitalis-Projekt und wie wird der Erfolg des Programms bewertet?
Michael Wirtz: Unser Ziel ist es, die Gesundheits- und Ernährungskompetenz der Teilnehmenden nachhaltig zu stärken und sie langfristig zu motivieren. Wir möchten das Programm weiter aus­bauen, regelmäßige Gruppentreffen etablieren und die Zusammenarbeit mit medizinischen und therapeutischen Fachkräften intensivieren.
Der Erfolg zeigt sich für uns vor allem darin, dass die Teilnehmenden ihr Verhalten dauerhaft ändern und sich in Selbsthilfegruppen weiter engagieren. Dieser Austausch ist für viele ein entscheidender Motivationsfaktor. Die gegenseitige Unterstützung ist oft nachhaltiger als jede Einzelberatung. Es ist bemerkenswert zu sehen, wie offen und ehrlich die Teilnehmenden in der Gruppe über ihre Herausforderungen sprechen – viele berichten, dass sie sich hier zum ersten Mal verstanden fühlen.


Welche Rolle spielt die mentale Gesundheit im DiaVitalis-Programm?
Dr. Heike Niemeier: Viele Menschen mit Diabetes erleben im Alltag Frustration, Selbstzweifel oder auch Scham, wenn Ziele nicht sofort erreicht werden. Es ist uns wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem diese Gefühle offen angesprochen werden können. In den Gesprächen ver­suchen wir, die Teilnehmenden zu ermutigen, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich nicht zu verurteilen, wenn mal etwas nicht gelingt. Denn nachhaltige Veränderungen brauchen Zeit – manchmal ein bis zwei Jahre, bis neue Routinen wirklich verankert sind.
Motivation entsteht dabei vor allem durch Verständnis und Selbstbe­stim­mung. Wenn die Teilnehmenden erkennen, warum Veränderungen sinnvoll sind und erleben, dass sie diese selbst beeinflussen können, entsteht eine nachhaltige Motivation. Besonders hilfreich ist es, kleine, erreichbare Ziele zu setzen und jeden Fortschritt wertzu­schätzen – selbst wenn es nur der erste selbstgekochte Blumenkohl ist oder der Spaziergang, der heute ein paar Minuten länger dauert als gestern. Die Erfahrung zeigt, dass ein wertschätzender Umgang und das Gefühl, nicht allein zu sein, die Motivation und das Wohlbefinden deutlich stärken.


Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung des Programms und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dr. Heike Niemeier: Eine Herausfor­derung ist die Finanzierung und die Integration individueller Betreuung in die Regelversorgung. Wir wünschen uns mehr medizinische Unterstützung und die Möglichkeit, das Programm auch in anderen Regionen zu etablieren. Wichtig ist, dass alle Akteure – Medizin, Ernährung, Bewegung und Selbsthilfe – an einem Strang ziehen.

Das Interview führte Birgit Schulze

Der nächste Zyklus von DiaVitalis startet am 6. September – empfehlen Sie Ihren Patientinnen und Patienten diese Chance auf mehr Selbstmanagement, Motivation und Lebensqualität!

Bilderquelle: © Mediaphotos – stock.adobe.com

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