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Gewichtsstigma in der Praxis – Was wirklich zählt bei Adipositas

Gewichtsstigma in der Praxis – Was wirklich zählt bei Adipositas

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mgo medizin

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Erschienen in: diabetes heute

Aktuelle Forschungsergebnisse, veröffentlicht im British Medical Journal (BMJ), zeigen: Die bisher übliche Empfehlung zur Lebensstiländerung – also weniger Kalorien, mehr Bewegung – führt bei Menschen mit Übergewicht meist nicht zu einem dauerhaften Gewichtsverlust. Noch wichtiger: Der alleinige Fokus auf Gewichtsreduktion kann für Betroffene sogar gesundheitsschädlich sein.

Zentrale Erkenntnisse aus der aktuellen Evidenz

  • Begrenzte Wirksamkeit von Lebensstilinterventionen: Lebensstilinterventionen (Kalorienrestriktion, Bewegung) führen bei Menschen mit hohem BMI im Mittel zu einer geringen, meist nicht nachhaltigen Gewichtsabnahme. Eine systematische Übersichtsarbeit (2022) zeigt: Nach zwei Jahren beträgt der mittlere Gewichtsverlust durch Lebensstilinterventionen im Vergleich zu Standardversorgung nur etwa 1,8 kg. Für Kinder und Jugendliche ist die Evidenz noch schwächer.
  • Keine Reduktion harter Endpunkte: Die große Look-AHEAD-Studie und Metaanalysen belegen, dass intensive Lebensstilinterventionen bei Menschen mit Prädiabetes oder Typ-2-Diabetes keine signifikante Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen oder der Gesamtmortalität bewirken. Der relative Risiko für kardiovaskulären Tod lag bei 0,99 (95% CI 0,79–1,23).
  • Kardiovaskuläre Risikofaktoren: Lebensstiländerungen können einzelne Risikofaktoren (z.B. Blutdruck) verbessern, das Gewicht scheint jedoch kein entscheidender Prädiktor für diese Verbesserungen zu sein. Auch Menschen mit hohem BMI können metabolisch gesund sein, solange gesunde Lebensgewohnheiten bestehen.

Risiken und Nebenwirkungen des Fokus auf Gewichtsreduktion

Wie Dr. Juan Franco von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf betont, kann die wiederholte Aufforderung zur Gewichtsabnahme nicht nur zu Stigmatisierung und Diskriminierung führen, sondern auch das Risiko für gestörtes Essverhalten erhöhen. Gerade im Praxisalltag erleben viele Menschen mit Übergewicht unangenehme Situationen, die ihre Gesundheit zusätzlich belasten können. Außerdem zeigen Studien, dass Lebensstilinterventionen oft nur einen geringen Einfluss auf das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder die Sterblichkeit haben.

Keypoints:

  • Stigmatisierung und psychische Folgen: Die Fokussierung auf Gewichtsreduktion fördert Stigmatisierung, internalisierte Gewichtsstigmatisierung und kann zu gestörtem Essverhalten, Depression und sogar erhöhter Mortalität führen. Dies ist insbesondere für vulnerable Gruppen (z.B. nach Geschlecht, Klasse, Ethnie) relevant.
  • Essstörungen: Das Risiko für Essstörungen durch Gewichtsmanagementprogramme ist noch nicht ausreichend erforscht; vorhandene Studien weisen auf mögliche Zusammenhänge hin, vor allem bei unstrukturierten oder stigmatisierenden Interventionen.

Empfehlungen für die klinische Praxis

Dr. Franco und das internationale Forschungsteam empfehlen daher, Menschen mit Übergewicht individuell und respektvoll zu begleiten. Konkret bedeutet das:

  • Individuelle, patientenzentrierte Betreuung:
    • Erlaubnis einholen, bevor das Thema Gewicht angesprochen wird.
    • Auf die Bedürfnisse und Wünsche der Patient:innen eingehen; Ziele gemeinsam definieren.
    • Praxisausstattung an größere Körper anpassen (Stühle, Blutdruckmanschetten etc.).
  • Fokus auf Gesundheit, nicht Gewicht: Die Beratung sollte sich auf Gesundheitsziele und Lebensqualität richten, nicht auf die Zahl auf der Waage. Empfehlungen zu Ernährung und Bewegung bleiben relevant, doch die absolute Gewichtsentwicklung sollte nicht im Mittelpunkt stehen.
  • Aufklärung über Nutzen und Risiken: Ärzt:innen sollten transparent über die geringe Erfolgsrate und mögliche Nebenwirkungen von Lebensstilinterventionen zur Gewichtsreduktion aufklären. Patient:innen sollten auch die Option haben, keine spezifische Gewichtsintervention zu wählen.
  • Vermeidung von Schuldzuweisungen: Keine Annahmen über Lebensstil oder Motivation treffen, nicht moralisieren, keine Schuldzuweisungen.

Alternativen und neue Ansätze

  • Edmonton Obesity Staging System (EOSS): Zur Beurteilung der Adipositas-Schwere sollten neben dem BMI auch Komorbiditäten und funktionelle Einschränkungen berücksichtigt werden.
  • Gewichtsneutrale Ansätze: Programme wie „Health at Every Size“ (HAES) und intuitive Ernährung zeigen in ersten Studien positive Effekte auf Essverhalten und Lebensqualität, unabhängig vom Gewichtsverlust.
  • Strukturelle Maßnahmen: Öffentliche Gesundheitsmaßnahmen, die Barrieren für Bewegung und gesunde Ernährung abbauen, sind potenziell effektiver als individuelle Programme.

Fazit für die diabetologische Praxis

  • Lebensstilinterventionen zur Gewichtsreduktion sind bei Erwachsenen mit Übergewicht oder Typ-2-Diabetes nur begrenzt wirksam für nachhaltigen Gewichtsverlust und zeigen keinen Einfluss auf harte Endpunkte wie Mortalität.
  • Der Fokus sollte auf einer individuellen, nicht-stigmatisierenden, gesundheitsorientierten Betreuung liegen.
  • Die Prävention und Behandlung von Komorbiditäten sowie die Förderung gesunder Lebensweisen bleiben zentral – unabhängig vom Körpergewicht.

Quelle: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Düsseldorf, 03. Juli 2025). Eine Anpassung des Lebensstils genügt nicht
Behandlung von Menschen mit Übergewicht individueller gestalten
[Pressemitteilung].

Originalpublikation: Franco JVA, Grundtvig Gram E, Meyer L, Grandi D, Cruzat B, Christiansen LB, Køster-Rasmussen R. Beyond body mass index: rethinking doctors‘ advice for weight loss. BMJ. 2025 Jun 25;389:e084654. doi: 10.1136/bmj-2025-084654. [Paper]

Bilderquelle: ©mojo_cp – stock.adobe.com

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