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Individualisiert und sicher behandeln: Diabetes im Alter

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mgo medizin

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Mit der alternden Bevölkerung steigt auch die Zahl älterer Menschen mit Diabetes mellitus, sowohl Typ 2 als auch Typ 1. Die Versorgung dieser Personengruppe stellt besondere Anforderungen an das Gesundheitssystem, die Angehörigen und die Betroffenen selbst.

Bereits heute liegt die Prävalenz des Diabetes in der Altersgruppe 70–79 Jahre in Deutschland bei über 25 %. Aufgrund der demografischen Verschiebung und der sinkenden Mortalitätsraten bei Diabetes mellitus wird mit einem Anstieg um 21–30 % bis 2040 gerechnet. Neben Typ-2-Diabetes (T2D), der häufig mit Übergewicht, Insulinresistenz und metabolischem Syndrom einhergeht, nimmt auch die Zahl älterer Menschen mit Typ-1-Diabetes (T1D) zu. Dies ist auf verbesserte Therapien und eine längere Lebenserwartung zurückzuführen.

Stoffwechsel bei T2D im Alter

Mit steigendem Alter verändert sich der Stoffwechsel auf mehreren Ebenen, was den Verlauf und die Therapie des Diabetes wesentlich beeinflusst. Durch einen chronisch entzündlichen Status („Inflammaging“) in Kombination mit einer nachlassenden Aktivität und Veränderung des Appetits und der Verdauung kommt es zur Veränderung der Körperzusammensetzung bei meist gleichbleibendem Gewicht: Die Muskelmasse nimmt ab (Sarkopenie), das Fettgewebe nimmt zu (viszerales Fett).

Hierdurch nehmen sowohl die Insulinempfindlichkeit als auch der Glukoseverbrauch durch die Muskulatur ab, während die hepatische Insulinresistenz zunimmt. Gleichzeitig nimmt die Insulinsekretion der Beta-Zellen ab, insbesondere die frühe Insulinantwort nach Mahlzeiten geht verloren, was postprandiale Hyperglykämien begünstigt. Die hepatische Glukoseproduktion ist durch die hepatische Insulinresistenz gesteigert, was zur Nüchternhyperglykämie beiträgt. Bedingt durch diese Veränderungen muss unter Umständen Insulin in einer intensivierten konventionellen Therapie (ICT) neu zwischen basalem und prandialem Insulin verteilt werden, um starke Blutzuckerschwankungen zu vermeiden.

Therapieziele im Alter

Die Festlegung von Therapie- und HbA1c-Zielen bei älteren Menschen mit Diabetes unterscheidet sich von denen jüngerer Menschen. Im Zentrum steht nicht primär die normnahe Blutzuckereinstellung zur Vermeidung von Folgeerkrankungen, sondern vielmehr die Vermeidung von Hypoglykämien, der Erhalt der Selbstständigkeit, Lebensqualität und funktionellen Kapazitäten.

Die Festlegung von Therapiezielen muss im Alter individualisiert basierend auf verschiedenen Faktoren erfolgen:

  • Funktioneller Status (fit/gebrechlich)
  • Kognitive Leistungsfähigkeit
  • Komorbiditäten
  • Lebenserwartung
  • Autonomie
  • Therapiemöglichkeiten (z. B. Insulintherapie oder CGM-Nutzung)

Für die Festlegung der Therapieziele sollte der HbA1c aber nicht alleinig betrachtet werden.

Durch den Einsatz von CGM-Systemen (Continuous Glucose Monitoring) können auch die bisher „therapieblinden“ Zeiten zwischen zwei Blutzuckermessungen und in der Nacht ausgewertet werden. Demnach können Therapieziele auch über die Zeit im Zielbereich (TIR), die Blutzuckerschwankungen (GV) oder die Häufigkeit von Unterzuckerungen (TBR) definiert werden. Die Hypoglykämievermeidung steht im Vordergrund und nicht das Erreichen von Perfektion. Einige kleinere Studien konnten einen Nutzen der CGM-Versorgung beim alten Menschen nachweisen, indem insbesondere die Häufigkeit von Hypoglykämien reduziert und die TIR erhöht wurde. Für ältere Menschen mit Diabetes sollten individuelle Therapieziele (HbA1c, TIR) festgelegt, regelmäßig überprüft und zur Therapieanpassung herangezogen werden.

Neben der Vermeidung von Hypoglykämien können weitere, übergeordnete Therapieziele sein:

  • Erhalt der Mobilität, Muskelmasse (Sarkopenieprävention)
  • Sturzprophylaxe
  • Vermeidung von Pflegeabhängigkeit oder Therapiebelastung (z. B. Polypharmazie, komplexe Insulinregime)
  • Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit

Der Vorteil einer komplexen, diversifizierten Therapie für die Vermeidung kardiovaskulärer oder renaler Komplikationen muss im Alter gegen die Therapiebelastung im Alltag aufgewogen werden. So kann es sinnvoll sein, das Therapieregime durch Reduktion der Insulininjektionen und der damit einhergehenden Blutzuckermessungen (z. B. durch CGM), die Nutzung von Kombinationspräparaten oder die Vermeidung von Insulin (außer bei T1D) zu vereinfachen. Studien zeigen, dass die Reduktion der Therapiekomplexität die Adhärenz bessert und das Risiko von Medikationsfehlern senkt.

Erreichung der Therapieziele im Alter

Für eine individualisierte Therapieentscheidung und Beurteilung des Betroffenen können neben der rein klinischen Einschätzung auch verschiedene geriatrische Assessments verwendet werden.

Problem der Hypoglykämien

Eines der größten Therapiehemmnisse bei der Behandlung alter Menschen mit Diabetes ist das Auftreten von Hypoglykämien mit oft besonders schwerwiegenden Folgen: Sie erhöhen das Risiko für Stürze, Frakturen, Delir und kognitive Verschlechterung. Wiederholte, eventuell auch nicht bemerkte Hypoglykämien können zu einer persistierenden, kognitiven Verschlechterung führen. Außerdem sind Hypoglykämien mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität assoziiert. Des Weiteren können Unterzuckerungen bei einem lange bestehenden Diabetes mellitus eventuell nicht mehr adäquat wahrgenommen werden (Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung).

Einsatz von GLP1-Rezeptoragonisten und SGLT2-Hemmern

GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) sind eine bedeutende pharmakologische Option in der Behandlung des T2D. Neben einer ausgeprägten HbA1c-Senkung konnten sie in zahlreichen Studien auch eine kardioprotektive Wirkung zeigen.

Allerdings lassen sich die Ergebnisse dieser Studien nicht uneingeschränkt auf ältere Betroffene übertragen. In den Zulassungsstudien waren zwar Menschen über 65 Jahre vertreten, ihr Anteil variierte jedoch zwischen 10 und 50 %, mit steigendem Alter nahm die Repräsentanz deutlich ab. Bei den über 75-Jährigen lag der Anteil nur noch zwischen 0,3 und 10 %, über 85-Jährige waren praktisch nicht mehr eingeschlossen.

Die am häufigsten eingesetzten GLP-1-RA (Liraglutid, Dulaglutid und Semaglutid) zeigten grundsätzlich auch bei älteren Menschen mit Diabetes eine konsistente Wirksamkeit hinsichtlich der Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse und der HbA1c-Senkung. Die pharmakokinetischen Eigenschaften entsprechen denen jüngerer Betroffener. Allerdings nimmt jenseits des 75. Lebensjahres die Streuung der Ergebnisse zu, wodurch die statistische Signifikanz abnimmt. Zudem steigt mit zunehmendem Alter die Häufigkeit unerwünschter und schwerwiegender Nebenwirkungen (vor allem gastrointestinale Beschwerden), die nicht selten zu einem Therapieabbruch führen. Auch das Risiko für Stürze war in den Semaglutid-Studien bei älteren Menschen erhöht (wenn auch insgesamt selten).

Ähnliches gilt für den neuen dualen Rezeptoragonisten Tirzepatid. Der Anteil der über 65-Jährigen in den Studien lag zwischen 6 und 48 %, bei den über 75-Jährigen zwischen 0,3 und 10 %. Die HbA1c-Senkung war in allen Altersgruppen nachweisbar, aber in der Gruppe der unter 65-Jährigen am stärksten ausgeprägt. Unerwünschte Ereignisse traten auch hier mit zunehmendem Alter häufiger auf – allerdings ebenso in der Placebogruppe. Hinsichtlich der kardiovaskulären Risikoreduktion zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Altersgruppen.

Für die SGLT2-Hemmer Dapagliflozin und Empagliflozin liegen ebenfalls Daten aus Zulassungsstudien mit älteren Menschen vor. Maximal ein Drittel der Studienteilnehmenden war älter als 65 Jahre, der Anteil der über 75-Jährigen lag zwischen 0,7 und 5 %. Bis zu einem Alter von 70 Jahren zeigen sich bei Dapagliflozin keine Unterschiede in der Pharmakokinetik. Bei älteren Menschen mit Diabetes wird jedoch von einer erhöhten Wirkstoffexposition aufgrund eingeschränkter Nierenfunktion ausgegangen; eine abschließende Bewertung ist wegen unzureichender Daten aber nicht möglich.

Dapagliflozin führte nach 24 Wochen sowohl bei Betroffenen unter als auch über 65 Jahre zu einer signifikanten HbA1c-Reduktion. In der Gruppe der über 75-Jährigen war dieser Effekt jedoch nicht mehr signifikant. Ab 65 Jahren treten häufiger unerwünschte Begleiterscheinungen wie Verschlechterung der Nierenfunktion bis hin zum Nierenversagen und Hypovolämie auf. Schwere unerwünschte Ereignisse waren bei älteren Teilnehmenden allerdings nicht häufiger als bei jüngeren. Hinsichtlich kardiovaskulärer Endpunkte zeigte Dapagliflozin signifikante Vorteile, insbesondere für die Gruppe der über 65-Jährigen. Auch bei Herzinsuffizienz erwies sich Dapagliflozin in allen Altersgruppen als vorteilhaft. Ähnliche Ergebnisse liegen für Empagliflozin vor.

Für Menschen mit Typ-1-Diabetes sind beide Wirkstoffklassen nicht zugelassen.

T1D im Alter

Mit zunehmender Verbesserung der Therapie erreichen auch immer mehr Menschen mit T1D ein hohes Lebensalter. In Deutschland leben schätzungsweise über 100.000 Menschen über 65 Jahre mit T1D, ein Anteil, der in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen wird. Während T1D traditionell als Erkrankung des jungen Erwachsenen- oder Kindesalters gilt, stellen geriatrische Patientinnen und Patienten mit T1D eine besonders vulnerable und gleichzeitig unterrepräsentierte Gruppe dar. Auf der anderen Seite sollte auch im hohen Alter noch (besonders bei schlanken Personen) an die Erstmanifestation eines T1D gedacht werden. Der Nachweis von Autoantikörpern und/oder niedrigem C-Peptid sichert die Diagnose.

Gleichzeitig stellt die komplexe Therapie des T1D im Alter eine große Herausforderung dar. Altersgerechte Schulungsprogramme und eine möglichst einfache Therapie sollten hier gewählt werden.

Im Alter verändern sich die pathophysiologischen, psychosozialen und funktionellen Rahmenbedingungen der Erkrankung. Insbesondere die Hypoglykämiewahrnehmung nimmt mit dem Alter ab, und kognitive Einschränkungen können die Therapiesicherheit und die selbstständige Insulinanpassung erschweren.

Studien zeigen, dass ältere Menschen mit T1D ein erhöhtes Risiko für schwere Hypoglykämien, Stürze und Hospitalisierungen aufweisen – häufig durch inadäquate Insulintherapie oder Auslassen der Mahlzeit. Der Einsatz von CGM-Systemen (rtCGM oder iscCGM) sowie insulinpumpengestützten Systemen (AID) bietet hier Vorteile hinsichtlich der Therapiesicherheit und -vereinfachung – auch im Alter.

Das Ziel muss auch bei älteren Menschen mit T1D sein, Hypoglykämien zu vermeiden, die Lebensqualität zu erhalten und die Selbstständigkeit durch gezielte technische oder personelle Unterstützung zu sichern.

Dr. med. Stefan Dörr

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