Nun ist sie (endlich) wahr geworden, die von unseren Politikern so sehnsüchtig erwartete elektronische (zentrale) Krankenakte, nun müssen sich alle Kollegen, ob ambulant oder klinisch tätig, mit dieser Akte beschäftigen.
Für mich, der ich mit der Papierakte aufgewachsen bin (und noch das quartalsweise Kontrollieren, Sortieren und Bündeln der „Scheine“ erlebt habe), stellt sich die alte Frage: „Qui bono?“
Wer profitiert von der ePA?
An erster Stelle sehe ich hier die Industrie, die massenweise neue Lesegeräte entwickeln, verkaufen und fertigen sowie neue Software schaffen und die (natürlich für den Arzt ebenfalls) kostenpflichtige Software-Pflege bereitstellen muss. Für diese ist die Akte bestimmt ein Gewinn. Dazu gehört auch die Bereitstellung der erforderlichen Speicherkapazität in den Clouds, die ihrerseits erhebliche Energiemengen verbrauchen wird. Als weitere Nutzer, die hiervon profitieren werden, sehe ich die Krankenversicherungen, die damit problemlos auf alle Daten ihrer Versicherten zugreifen können, ohne auf Antworten der behandelnden Ärzte warten zu müssen.
Nutzen und Herausforderungen im Notfall
Auch dann, wenn der Patient als „Notfall“ in der Krankenhausaufnahme oder einer Arztpraxis eintrifft, ist diese Form der zentralen Datenspeicherung sicherlich sehr hilfreich. Sie kann wertvolle Hinweise zur Anamnese geben; hier sehe ich allerdings große Möglichkeiten für die „Künstliche Intelligenz“. Sie könnte entscheiden, welche Daten in diesem Fall von Interesse sind. Ich erinnere mich noch gut an Hausbesuche während des Bereitschaftsdienstes, wenn Angehörige dicke Ordner präsentierten, die in der Situation aber nicht komplett durchgesehen werden konnten. Hier wäre es sinnvoll, wenn die KI mehrere Stufen der Präsentation anbieten würde, beispielsweise: Was ist im Notfall wichtig, was muss der Vertretungsarzt wissen, welche Informationen sind bei der Aufnahme in ein Krankenhaus oder für den Rettungsdienst erforderlich?
Ein weiteres Problem sehe ich persönlich bei Notfällen „im Gelände und auf der Straße“. Sicherlich werden Fahrzeuge des Rettungsdienstes mit entsprechenden Lesegeräten ausgerüstet sein, aber ob diese dann auch eine Verbindung zum Netz haben, ist fraglich: In Gebäuden aus Stahlbeton, in vielen Gegenden auf dem Land und besonders in reetgedeckten Häusern in Norddeutschland, die aus Gründen des Blitzschutzes in „Faraday’sche Käfige“ verwandelt wurden, besteht keine Möglichkeit, sich in das Funknetz einzuwählen – es sei denn, der Eigentümer gestattet, sein WLAN zu nutzen. Hier ist also die elektronische Patientenakte nutzlos. Ebenso nutzlos ist sie, wenn ein Arzt in seinem Urlaub zu einem Notfall gerufen wird, sei es im Hotel oder auf einem Schiff, im Ausland oder gar einem Flugzeug, wenn er kein Lesegerät bei sich hat. Hier wäre es sicherlich günstiger, wenn dem Patienten ein handliches, ausgedrucktes Formular in der Größe der Chipkarte vorläge, aus dem der behandelnde Arzt die relevanten Daten ohne Technik entnehmen könnte.
Datensicherheit und Missbrauchsgefahren
Ein weiteres Problem, das ich aufgrund der derzeitigen politischen Situation sehe, sind die Angriffe durch „Hacker“. Die jüngere Vergangenheit zeigt, wozu diese Spezialisten fähig sind. All das beweist, dass sich auch Unautorisierte relativ einfach Zugang zu diesen hochsensiblen Daten verschaffen können. Damit ist meiner Meinung nach dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
Einen großen Nutzen davon dürfte insbesondere die Pharmaindustrie haben. Wenn sie auf Daten Zugriff hat, zu deren Nutzung sie nicht berechtigt ist, könnte sie anhand dieser Daten nicht nur ihr berechtigtes Interesse für Wirkung und Nebenwirkung ihrer Präparate preisgünstig befriedigen, sondern auch entscheiden, ob sich die Forschung nach neuen Medikamenten lohnt, auch wenn nur eine kleine Patientenzahl einen Nutzen hätte. Auch Versicherungsunternehmen dürften großes Interesse an den Daten haben. So könnten sie im Schadensfall durch Datenabgleich schnell vermeintliche Falschangaben identifizieren, um Leistungszahlungen zu verweigern. Aber auch für Unternehmen anderer Sparten können diese Daten – unberechtigt eingesehen – sehr nützlich sein, etwa bei der Einstellung neuer Mitarbeiter oder bei geplanten Entlassungen. Unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation sollten wir auch die Gefahr der Einsichtnahme ausländischer Geheimdienste nicht unterschätzen. Diese könnten die Daten nutzen, um potenzielle „Mitarbeiter“ durch Erpressung leichter zu rekrutieren oder Erkenntnisse über Krankheitsanfälligkeiten der Bevölkerung zu gewinnen. Auch die Auswahl geeigneter medizinischer Angriffsziele im Kriegsfall, beispielsweise spezialisierte Kliniken, müssen wir einkalkulieren. Dass diese Daten auch für erpresserische „Hobby-Hacker“ interessant sind, versteht sich von selbst.
Alternativen und offene Fragen
Obwohl das alles leider nicht mehr zu ändern ist und wir mit diesen Risiken leben müssen, frage ich mich, warum man nicht die Speichermöglichkeiten des Chips auf der Versichertenkarte genutzt hat, um den Medikamentenplan, wichtige Vorerkrankungen, Allergien und Risiken sowie die Erreichbarkeit des Hausarztes mit ähnlichen Lesegeräten zugänglich zu machen, wie beispielsweise den TAN-Generatoren der Banken, die ohne Netz oder Internet auskommen. Die Sicherheit wäre damit herzustellen, dass der betreffende Arzt vorher seinen elektronischen Arztausweis einlesen muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass jene Kollegen, die bereit sind, auch in ihrer Freizeit Erste Ärztliche Hilfe zu leisten, dieses Lesegerät dann bei sich haben, ist meines Erachtens relativ groß. Für Kliniken, Notfallambulanzen und Arztpraxen würde es ausreichen, mithilfe der Versichertenkarte Zugriff auf die beim Hausarzt gespeicherten Daten zu erhalten, die bei Überweisungen und Befundübermittlungen vollständig sein müssten.
Offene Fragen und Ausblick
Zum Schluss noch eine wichtige Frage: Was passiert, wenn über dieses meiner Ansicht nach fragile System ein Virus eingeschleust wird, der alle angeschlossenen Rechner infiziert und so zum völligen Zusammenbruch des gesamten Systems führt? Da lobe ich mir doch meine Papierakte und die geschriebenen Befundberichte! Ändern lässt sich diese Situation nicht mehr, aber sollten wir Hausärzte nicht die Verantwortlichen dazu bewegen, hier eine Vereinfachung bei gleichzeitig größerer Sicherheit zu schaffen?
Autor: Dr. med. Holger Schnering
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