Die Erkenntnisse über geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin rücken mehr und mehr ins Bewusstsein der Ärzte. Mit der richtigen und frühzeitigen Diagnose bietet sich damit die Chance auf eine angepasste geschlechtssensible Versorgung der Patienten. Die Unterschiede beschränken sich dabei nicht nur auf das biologische Geschlecht, sondern beziehen auch sozialpsychologische Aspekte mit ein. Das Wissen um diese Unterschiede kann mitunter Leben retten.
Gendersensibilität – bei CKD überlebenswichtig
Die chronische Nierenerkrankung (CKD) ist eine schwere fortschreitende Erkrankung, bei der die Niere im Endstadium ihre Funktion irreversibel verliert. Regelmäßige Dialyse oder eine Nierentransplantation sind dann die letzte Option. Auslöser einer CKD können Infekte, Medikamente, Autoimmunerkrankungen, genetische Veranlagung und vor allem Diabetes und Bluthochdruck sein. Aktuelle Studien zeigen, dass Frauen mit CKD eine schlechtere Versorgung als Männer erhalten, d.h. weniger Früherkennung, weniger Medikamente und weniger Dialysen. Eine oft späte Diagnose mit der Gefahr eines verspäteten Dialysebeginns bedeutet für betroffene Frauen ein höheres Sterblichkeitsrisiko. Das ist mit dem unterschiedlichen biologischen Geschlecht allein nicht zu erklären. Vielmehr spielen zusätzlich Genderaspekte, wie Unterschiede in Wahrnehmung und Umgang mit der Erkrankung eine zentrale Rolle. Diese haben bereits Eingang in die internationalen KDIGO-Leitlinien gefunden.
Auch Männer haben Depressionen, aber anders
Eine Depression ist eine ernste behandlungsbedürftige Erkrankung, von der Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Für diesen Geschlechterunterschied gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Naheliegend sind hormonelle Gründe: Eine Depression tritt bei Frauen oft in Lebensphasen auf, die durch Hormonumstellungen gekennzeichnet sind (z.B. Wochenbett-Depression, prämenstruelles Syndrom).
Insbesondere Östrogene und Gestagene spielen hier eine zentrale Rolle. Eine Depression ist bei Männern schwieriger zu erkennen. Frauen sprechen eher über ihre Ängste und Stimmungsschwankungen, sie werden daher häufiger als depressiv eingeordnet. Bei Männern werden dagegen eher organische Ursachen vermutet. Aber auch die traditionellen Geschlechterrollen tragen zu den Unterschieden bei: Männlichkeit wird oft noch mit Stärke, Status und Dominanz assoziiert. Bei vielen Männern erzeugt es zusätzlich Druck, diesem Rollenbild zu entsprechen („toxische Männlichkeit“). Die Folge: Männer sterben drei Mal häufiger durch Suizide als Frauen.
Geschlechterunterschiede – neuer Aspekt auch bei Alzheimer
In jüngster Zeit gewinnen Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Unterschieden auch bei dieser Demenz-Erkrankung an Bedeutung. Im Vergleich zu Männern haben Frauen ein doppelt so hohes Alzheimer-Lebenszeitrisiko und eine höhere Mortalität. Dieser Unterschied ist altersabhängig: im mittleren Alter (40–65 Jahre) ist das Risiko bei den Männern noch höher, im hohen Alter kehrt sich dieses Verhältnis um. Insgesamt ist die Mehrheit der Alzheimer-Patienten weiblich. Die höhere Lebenserwartung von Frauen reicht als alleinige Erklärung für die Unterschiede nicht aus. Forscher haben das Allel APOE4 als relevanten genetischen Risikofaktor für Alzheimer identifiziert. Im Gegensatz zu männlichen Trägern haben Frauen mit diesem Allel eine höhere Inzidenz für Alzheimer. Bei bereits gestellter Diagnose verschlechtert sich bei diesen Frauen die kognitive Leistung schneller.
Gendermedizin geht alle an!
Das Thema wird zwar nach wie vor unterschätzt, aber das Bewusstsein und das Wissen finden langsam auch Einzug in den Praxisalltag. Für viele Krankheitsbilder sind bereits geschlechtsspezifische Unterschiede identifiziert, die helfen können, Symptome, Krankheitszeichen oder -risiken besser einzuordnen – für eine gezielte geschlechtsangepasste Versorgung der Patienten. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Forschungskenntnisse bereits angehenden Ärzten vermittelt werden bzw. zeitnah in Fortbildungsangebote einfließen. Derzeit werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der medizinischen Aus- und Weiterbildung nur punktuell behandelt und nur bei wenigen deutschen Hochschulen ist das Thema schon Teil des Lehrplans.
In einer „Momentaufnahme“ gewähren Dr. Nina Perwas und Prof. Dr. Armin Wunder aus einer allgemeinmedizinischen Gemeinschaftspraxis in Frankfurt am Main Einblicke in ihren Praxisalltag.
Gendermedizin – wo stehen wir?
Gendermedizin findet auch bereits in unserer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis statt, noch nicht in dem Maße wie es sein könnte oder sollte, aber das Thema wird künftig auch in unserem Praxisalltag eine immer größere Rolle spielen – sei es bei der Wahl der Medikamente oder der Beurteilung des Risikoprofils bei bestimmten Erkrankungen, wir müssen künftig zunehmend geschlechtersensible Unterschiede berücksichtigen. Aktuell mangelt es aber noch an ausreichenden Daten. Deshalb ist einerseits eine Intensivierung der Forschung notwendig, andererseits sollten die Erkenntnisse daraus zeitnah Eingang zum Beispiel in Fortbildungsmaßnahmen finden. Dann haben wir als Ärzte die Chance, unseren Patienten eine optimale, geschlechtsangepasste Versorgung zu ermöglichen.
Beispielsweise begegnen uns kardiologische Erkrankungen. Wir wissen: Frauenherzen schlagen anders – und das nicht nur, weil sie kleiner sind und weniger Pumpkraft haben! Die Liste der bereits identifizierten Unterschiede ist hier schon lang: Frauen haben ein anderes Risikoprofil als Männer, d.h. hat eine Patientin Diabetes oder Bluthochdruck, hat sie auch ein höheres Risiko, eine Herz-Kreislauferkrankung zu entwickeln als ein Mann mit gleicher Konstellation.
Daneben gibt es noch weitere Faktoren wie Rheuma oder Autoimmunerkrankungen, die das Risiko von Frauen, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, stark erhöhen. Aber auch Übergewicht spielt hier eine Rolle. Diese Risikofaktoren müssen wir schon bei der Anamnese im Hinterkopf haben. Bei einer Verordnung sollten wir uns bewusst sein, dass zwar die meisten Herzmedikamente für Frauen und Männer geeignet sind, aber die Dosierung ggf. ganz unterschiedlich sein muss. Eine zu hohe Dosis kann dann auch stärkere Nebenwirkungen auslösen. Hier ist es wichtig, die Patientin bereits vorher darüber aufzuklären, um zu vermeiden, dass sie das Medikament aufgrund von Nebenwirkungen ohne Rücksprache einfach absetzt.
Bei vielen Erkrankungen sind Schmerzen Teil des Beschwerdebildes: Magen-Darm-Infektionen, Reizdarmsyndrom, Harnwegsinfektionen, Gallensteine… auch hier sehen wir viele geschlechtsspezifische Unterschiede. Frauen empfinden Schmerzen generell anders als Männer, da spielen sicher die Schwankungen im Hormonspiegel eine Rolle. Frauen gehen aber auch anders mit Schmerzen um: sie suchen früher unsere Praxis auf als Männer und beschreiben dann auch viel detaillierter ihre Schmerzen.
Männer sprechen seltener über ihre Gesundheit und gehen auch seltener zu Vorsorgeuntersuchungen bzw. Krebsfrüherkennungsuntersuchungen. Und Männer erleben Krankheiten anders als Frauen. Wer kennt nicht die Situation, in denen Männer, gefragt nach dem Anlass der Konsultation, antworten: „Meine Frau hat mich geschickt!“. In Fällen wie diesen kann es hilfreich sein, dass die Patienten bereits vorab einen Anamnese-Bogen ausfüllen.
Mit den Informationen aus dem Anamnesegespräch und ggf. dem Anamnesebogen ist es wichtig, sensibel unter Würdigung des Geschlechts über beispielsweise über mögliche Wirkungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu informieren. Dies ist manchmal eine Gratwanderung, die Fingerspitzengefühl erfordert. Und das klappt nur auf einer Basis des Vertrauens!
Autor: Brigitte Funk
Quelle: Der Allgemeinarzt
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