SARS-CoV-2-Infektionen haben an Schwere, nicht aber an Häufigkeit abgenommen. Als endemische Infektion kursieren verschiedene Varianten in der Bevölkerung, klinisch treten diese vor allem als Erkältung oder mit grippeähnlichen Verläufen auf. Da außerhalb von Kliniken nur wenig getestet wird, können Inzidenzen und Prävalenzen allenfalls geschätzt werden. Lebensbedrohliche Verläufe sind auch Dank des stetig wachsenden Immunstatus der Menschen selten geworden.
Long/Post-Covid (im Folgenden PCS) als Folgeerkrankung tritt auch nach milder Covid-19-Erkrankung auf, sodass trotz endemischer Situation, neue Patient:innen davon betroffen sind. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich im Praxisalltag überwiegend der Begriff „Long-Covid“ etabliert. Entsprechend der NICE-Kriterien werden Beschwerden ab vier bis zwölf Wochen nach der Akuterkrankung als „Long“-Covid und ab zwölf Wochen als „Post“-Covid-Syndrom bezeichnet. Unterschiedlich wird ausgelegt, ob das „Long“-Covid-Syndrom zudem als Oberbegriff für das „Post“-Covid-Syndrom gedacht ist und dieses einschließt. Beide Begriffe fungieren als Zeitkriterien und sind rein deskriptiv zu verstehen. In der Praxis ist für den Behandler wichtig, eine klare Vorstellung des zeitlichen Krankheitsverlaufs, der Symptomentwicklung sowie der Symptomdynamik zu entwickeln.
Der Zeitpunkt der (vermuteten) Akuterkrankung sollte daher bei Berichten immer mitaufgeführt werden. Aufgrund der heterogenen Studiengestaltung sind gewonnene Daten der einzelnen Untersuchungen nur schwer vergleichbar. Der Untersuchungszeitpunkt in Relation zur Akuterkrankung, die Schwere der Infektion und die Art der Diagnosestellung des PCS sind von Studie zu Studie unterschiedlich und bei der Interpretation der jeweiligen Ergebnisse zu berücksichtigen. Inzwischen konnten mehrere Risikofaktoren für die Entwicklung eines PCS identifiziert werden. Schwere Verläufe und eine initial hohe Viruslast zeigten sich ebenso wie biografische Faktoren (z.B. weibliches Geschlecht) oder bestimmte Prämorbiditäten (z.B. Adipositas, Asthma bronchiale, schlechte psychische Gesundheit) mit einem erhöhten Risiko für ein PCS. Ein positiver Impfstatus reduziert die Auftretenswahrscheinlichkeit hingegen deutlich.
Versorgungssituation des Long/Post-Covid-Syndroms
Die Daten zur Häufigkeit eines PCS hängen vom betrachteten Patientenkollektiv ab und werden aufgrund der hohen Anzahl an Studien mit rein subjektiver Symptombeschreibung von Patientenseite vermutlich überschätzt. Die erhobenen Häufigkeiten variieren stark, im Mittel kann von bis zu 15 % der Infizierten ausgegangen werden, einen Einfluss hat hier z.B. die Schwere der Akuterkrankung ebenso wie die eigentliche Virusvariante. Nach einer Auswertung der AOK Niedersachsen, hat sich die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund eines PCS von Frühjahr 2022 bis Ende 2023 mehr als halbiert. Befragt man die Betroffenen selbst, erleben sich diese weiterhin als unterversorgt. Es mangle an Expertise, zudem beklagen sich die Patient:innen, primär psychosomatisch angesehen und behandelt zu werden. Wartezeiten in PCS-Spezialambulanzen sind weiterhin sehr lang und liegen im Bereich von Monaten. In Deutschland wurden erst dieses Jahr 152 Mio € für die Versorgungsforschung für an PCS erkrankte Kinder und Erwachsene bis 2028 bereitgestellt. Da es weiterhin an kausalen Behandlungsoptionen fehlt, wurde im Mai 2024 die Long-Covid-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in Kraft gesetzt, um den Betroffenen schnellstmöglich zu einer bedarfsorientierten Diagnostik und Behandlung Zugang zu verschaffen.
Hausarzt als wichtigster Behandler
Entsprechend der 2021 erstmals veröffentlichen AWMF S1-Leitlinie wird in dieser Richtlinie der hausärztlichen Versorgung die Rolle des primären Behandlers und Koordinators bzgl. weiterer (fachärztlicher) Behandlung und Versorgungsstrukturen zugeschrieben. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) schließt sich dieser Einschätzung an, insbesondere da die Hausärzte ihre Patient:innen oft lange kennen und über die Notwendigkeit einer Einbeziehung weiterer Fachärzte und/oder Berufsgruppen am besten entscheiden könnten. Eine Datenerhebung der gesetzlichen Krankenkassen zeigte eine Post-Covid-Diagnose von 7–13 % bei Erwachsenen in allen Abrechnungsquartalen 2022 in den hausärztlichen Praxen.
In Anbetracht der häufig diffusen und komplexen Symptomatik der PCS-Patient:innen ist deren Erstversorgung und Betreuung keine einfache Aufgabe. Die Diagnose eines PCS entsprechend der Kriterien der WHO bzw. der S1-Leitlinie ist als Ausschlussdiagnose definiert, was je nach Beschwerdebild ein umsichtiges Abwägen der Differenzialdiagnostik erfordert. Über 200 verschiedene Symptome sind beschrieben, wobei u.a. Fatigue, Belastungsdyspnoe, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und Schmerzen zu den häufigsten Beschwerden zählen6. Beschwerden, die auch unabhängig eines PCS in der allgemeinmedizinischen Praxis häufig beklagt werden. Erforderliche Symptomkomplexe zur Diagnoseerfüllung gibt es hingegen nicht. Besonders schwierig ist aufgrund der Symptomüberschneidung die Abgrenzung zur Depression, die mit einer 8%igen Jahresprävalenz von vorneherein sehr häufig ist. In der Diagnostik müssen zudem Prä- und Komorbiditäten sowie psychosomatische (Folge-)Erkrankungen bedacht werden.
Unverzichtbar bleibt somit eine ausführliche Anamnese, die viel Zeit in Anspruch nimmt, Zeit, die im Praxisalltag oft fehlt. Unterstützend können Fragebögen eingesetzt werden, die Berliner Charité stellt hierfür Arbeitsmaterialien für Fachpublikum kostenlos zur Verfügung. Diese dienen nicht nur der Diagnostik, sondern helfen auch bei der Verlaufsdokumentation der Symptome und deren Ausprägung. Der Abgleich zwischen Patientennarrativ im Anamnesegespräch, Antworten in den Fragebögen und klinischem Befund bietet darüber hinaus die Option zur Abschätzung von Simulation, Aggravation oder auch Dissimulation. Als Screening für ein depressives Syndrom eignen sich der PHQ-9 oder der BDI II, wobei PCS-Patient:innen ohne manifeste depressive Komponente erfahrungsgemäß vermehrt bei den somatovegetativen Fragen (z.B. Erschöpfung, Schlafstörungen etc.) punkten, konkrete Studiendaten hierzu fehlen jedoch. Mithilfe der Klok-Scale kann eine Einordnung des funktionellen Status (validiert nur für Erwachsene) erfolgen. Insgesamt kann und sollte den Patient:innen eine gute Prognose kommuniziert werden, denn bei der Mehrheit der Patient:innen bilden sich die Beschwerden wieder zurück oder nehmen zumindest an Schwere ab. Eine Sonderrolle haben PCS-Verläufe, die dem Vollbild eines ME/CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom) entsprechen, hier scheint der Verlauf weniger günstig zu sein.
Die Aufklärung, dass es sich nicht um eine fortschreitende Erkrankung handelt, erleben die Betroffenen bereits als entlastend. Die Möglichkeit selbst Einfluss auf die Symptomlast zu nehmen, wird dankbar aufgenommen. Ziel ist die Modifikation symptomverstärkender dysfunktionaler Verhaltensweisen (z.B. anhaltende Überlastung, Überforderung, Stress etc.) sowie ein optimales Energiemanagement. Mit diesem Behandlungsansatz können sich die Patient:innen zudem leichter auf eine flankierende psychotherapeutische Maßnahme einlassen, falls diese indiziert erscheint. Einerseits wird ein Verständnis für die Beschwerden vermittelt, andererseits Selbstwirksamkeit gefördert. Bei nicht auszuschließender Depression als Ursache der Symptomatik oder Komorbidität sollte großzügig Leitliniengerecht behandelt werden, um eine Chance auf Besserung nicht zu versäumen. Ergänzend besteht die Optionen auf eine z.B. medikamentöse symptomorientierte Behandlung.
Behandlung des PCS
Als Behandlungswegweiser wurde von einer Expertengruppe im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) ein TherapieKompass publiziert, der Arzneimittelempfehlungen für zwölf Symptomkomplexe enthält. Für das PCS sind weiterhin keine spezifischen Therapien zugelassen. Im Kompass werden mit besonderer Rücksicht auf die Besonderheiten des PCS, zugelassene Arzneimittel symptombasiert aufgeführt. So muss z.B. bei der medikamentösen Therapie eines depressiven Syndroms bei gleichzeitig vorhandener Fatigue mit sedierenden Antidepressiva, eine Verschlechterung der Fatigue bedacht werden. Für die Belastungsintoleranz mit Post-Exertioneller-Malaise bleibt das Pacing (Energiemanagement) der bisher verfügbare Behandlungsansatz, um eine Überlastung und konsekutive Zustandsverschlechterungen zu vermeiden. Eine schrittweise Belastungssteigerung unter Symptomkontrolle scheint der Weg, um mögliche Leistungssteigerungen sichtbar zu machen.
Therapieverfahren wie z.B. Immunadsorption, Lipidapherese oder hyperbare Sauerstofftherapie, sollten nach aktuellem Wissensstand, trotz positiv publizierter Fallberichte, weiterhin nur im Rahmen von kontrollierten Studien erfolgen. Eine belastbare Evidenz hierfür fehlt und noch ist nicht sicher geklärt, ob und welche Patientensubgruppen hiervon profitieren könnten. Nicht selten entwickeln PCS-Patient:innen ein voll ausgeprägtes Chronischem Fatigue-Syndrom im Sinne eines ME/CFS (z.B. nach den Kanadischen Konsens Kriterien), was aufgrund der Schwere der Symptomatik die Behandlung und den Zugang hierfür deutlich erschwert. Die Vorstellung in PCS-Spezialambulanzen wird in der S1-Leitlinie erst nach drei Monaten ohne Besserung empfohlen. Sind diese an Ambulanzen der Universitätskliniken angegliedert, bietet sich zudem die Möglichkeiten zur Teilnahme an klinischen Studien. Die Bereitschaft ist hier insgesamt hoch. Zudem können in diesem Rahmen Off-Label Behandlungen bzw. individuelle Heilversuche z.B. mit dem bereits aus der experimentellen ME/CFS-Therapie bekannten Low-Dose Naltrexon oder Low-Dose Aripiprazol erfolgen. Mangels Zulassung oder Therapieempfehlungen sollten derartige Behandlungsversuche erfahrenen Behandlern vorbehalten bleiben. Einige Ambulanzen sind mit Tageskliniken gekoppelt und können den Patient:innen bei der weiteren Behandlungsplanung helfen.
Klarheit in der Ursachenklärung des Long/Post-Covid?
Seit der Beschreibung und Definition der Erkrankung ist es nicht gelungen Biomarker oder bildgebende Veränderungen von ausreichend diagnostischem Wert zu identifizieren. Ein unauffälliges Labor schließt ein PCS nicht aus. Die Pathologie dieser Erkrankung bleibt weiterhin unklar, in Anbetracht der klinischen Vielfalt ist von mehreren Mechanismen auszugehen. Vermutet werden eine Viruspersistenz, (Auto-)Immunologische sowie inflammatorische Prozesse, eine Hyperkoagulabilität oder Gewebeschäden. Einen Überblick über diskutierte Ursachen, sinnvolle Labordiagnostik sowie Häufigkeiten von Symptomen und Folgeerkrankungen gibt die Bekanntmachung der Bundesärztekammer. Einige Studien weisen auf eine Korrelation von bestimmten Antikörpern hin (z.B. G-Protein gekoppelte Antikörper), eine praxisrelevante Diagnostik oder Therapiekonsequenz konnte hieraus bisher nicht erfolgen. Jüngst zeigte eine Züricher Studiengruppe bei PCS-Patient:innen Veränderungen im Komplementsystem, wodurch bisherige Theorien zu Störungen des Immunsystems und des Gerinnungssystems als Pathomechanismus gestützt werden.
Alles doch nur psychosomatisch?
Trotz der Vielfalt an bereits durchgeführten Studien bleiben viele Fragen offen. In der Gesellschaft wie in der Ärzteschaft stehen sich weiterhin unterschiedliche Haltungen ob einer somatischen vs. psychosomatischen Genese gegenüber. Es stellt sich die Frage, in welcher Fachrichtung Patient:innen zur Rehabilitation am besten aufgehoben sind, wenn z.B. Fatigue, Schmerzen und Schlafstörungen bei unauffälliger Diagnostik die führenden Beschwerden sind. Die Betroffenen fühlen sich durch eine „Psychosomatisierung“ stigmatisiert, was z.B. beim ME/CFS zu einer Verschlechterung der Symptomatik führen kann. Häufig sehen wir in der PCS-Behandlung „Highperformer“, wobei ein latentes, prämorbides Burnout durch (Long-)Covid zutage treten und in der Folge als krankheitsaufrechterhaltender bzw. symptomfördernder Faktor dienen kann. Ebenso stört ein persönlichkeitsimmanentes Leistungsstreben mit rezidivierenden Überlastungen den Genesungsprozess.
Wir haben es hier mit einem komplexen Krankheitsbild zu tun, bei dem wir neben einer symptombasierten interdisziplinären Behandlung unter Berücksichtigung eines bio-psychosozialen Krankheitsmodells frühzeitig psychosoziale Belastungsfaktoren und krankheitsaufrechterhaltende Faktoren identifizieren müssen, um einer dadurch begründeten Chronifizierung entgegenzuwirken. Eine strenge Trennung zwischen Somatik und Psyche scheint hier in Anbetracht der bisherigen Kenntnisse wenig erfolgversprechend8. Die Diversität der Beschwerden fordert einen interdisziplinären, ganzheitlichen Behandlungsansatz. Dem Hausarzt als ärztlichem Ansprechpartner und Schaltstelle wird hierbei eine große Aufgabe zuteil, bei spürbarem Leidensdruck des Patienten, psychosozialen Belastungsfaktoren und Stressoren kann eine zeitnah hinzugezogene psychotherapeutische/psychiatrische Begleitbehandlung zur Entlastung aller Beteiligten führen.
Autor: Dr. med. Katharina Grobholz
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