2024 brachte neue Leitlinien zur Behandlung bakterieller Harnwegsinfektionen, mit einem Fokus auf den Verzicht von Antibiotika zugunsten von beispielsweise Phytotherapeutika. Gleichzeitig gewinnen digitale Gesundheitsanwendungen (DiGas) an Bedeutung, insbesondere bei der Inkontinenz-Therapie, um Therapieadhärenz und Lebensstiländerungen zu unterstützen. Prof. Dr. med. Daniela Schultz-Lampel erklärt im Interview, welche wissenswerten Neuigkeiten es gibt.
Dieses Jahr wurden bereits zwei neue Leitlinien veröffentlicht – eine davon zu unkomplizierten bakteriellen Harnwegsinfektionen. Was kann man hier hervorheben?
Schultz-Lampel: Ich denke, dass sich schon seit Längerem der Trend abzeichnet, wenn möglich auf Antibiotika zu verzichten. Stattdessen gewinnen Phytotherapeutika an Bedeutung, auch weil viele Patienten diese inzwischen einem Antibiotikum vorziehen. Darüber hinaus gibt es bei den Harnwegsinfektionen noch weitere spannende Ansätze, etwa die fäkale Mikrobiota-Transplantation oder der Einsatz von Bakteriophagen. Letzterer sollte bislang allerdings nur im Rahmen von Studien stattfinden. Das heißt, Patienten sollte unbedingt davon abgeraten werden, auf unseriöse Angebote einzugehen, sich entsprechende Präparate im Ausland zu besorgen und eigenmächtig anzuwenden.
Was halten Sie von App-basierten Therapieansätzen?
An entsprechenden Tools wird ja schon seit ein paar Jahren gearbeitet – sei es für die überaktive Blase, die Belastungs- und Mischinkontinenz oder speziell für Männer. Meiner persönlichen Erfahrung nach sind die Apps vor allem gut dazu geeignet, die Therapieadhärenz zu verbessern und die Motivation für therapieunterstützende Maßnahmen zu erhöhen, wie ausreichendes Trinken, regelmäßige Toilettengänge oder eine Physiotherapie. Auch bei der möglicherweise nötigen Änderung des Lebensstils, wie eine Gewichtsreduktion, kann eine DiGa helfen.
Das sind alles Aspekte eines multimodalen Behandlungsansatzes der Inkontinenz. Ist das der Schlüssel zum Erfolg?
Auf jeden Fall. Eine effektive Behandlung besteht optimalerweise unbedingt aus einem gesunden Lebensstil, Physiotherapie und einer wirksamen medikamentösen Therapie. Hier sollte man den Patienten auch immer wieder Hoffnung machen, wenn ein Präparat mal nicht gleich oder gar nicht wirkt. Neben einer bewährten guten Auswahl an Möglichkeiten gibt es auch immer wieder neue Zulassungen. Man muss in manchen Fällen möglicherweise nur etwas rumprobieren, bevor man das individuell passende Mittel findet. Das ist die Herausforderung bei funktionellen Störungen.
Schlussendlich hat die Therapie das Ziel, die Lebensqualität des Patienten wieder herzustellen. Welche Aspekte können hier noch eine Rolle spielen?
Generell sollt man bei einer Inkontinenz auch immer mögliche Komorbiditäten im Kopf haben, etwa Schmerzen, Depressionen, Fatigue oder sexuelle Beschwerden. Gegebenenfalls ist bei bestimmten Symptomen oder Grunderkrankungen, wie etwa Multiple Sklerose oder Krebs, auch eine interdisziplinäre Behandlung, z. B. mit Kollegen aus der Neurologie oder Onkologie, notwendig. Und: Voraussetzung für eine optimale Betreuung der betroffenen Patienten ist zum einen, sie dazu zu bewegen, eine urologische Praxis aufzusuchen und über das Tabuthema Inkontinenz zu sprechen. Zum anderen muss sich auch aus politischer Sicht einiges ändern, um die Versorgung zu verbessern – allem voran bedarf es mehr Aufmerksamkeit und Geld.
Aus diesem Grund unterstützen die Deutsche Gesellschaft für Urologie und die Deutsche Kontinenz Gesellschaft die im Sommer 2024 vorgestellte europaweite Kampagne „An Urge to Act“, mit dem Ziel, die enorme, aber noch immer unterschätzte Bedeutung der Inkontinenz-Thematik im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen und die Politik zu geeigneten Maßnahmen zur optimalen Patientenversorgung zu bewegen. Das ist insbesondere deshalb von Bedeutung, da die Bevölkerung nicht nur in Deutschland immer älter wird und funktionelle Störungen wie die Inkontinenz damit immer mehr zunehmen werden. Umso wichtiger ist es, sich rechtzeitig gegen entsprechende medizinische und soziale Herausforderungen zu wappnen.
Interview: Anne Göttenauer
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