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Zur Frage des Facharztstandards in der Allgemeinmedizin – Teil 1: Gibt es einen gültigen
Facharztstandard?

Zur Frage des Facharztstandards in der Allgemeinmedizin – Teil 1: Gibt es einen gültigen
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mgo medizin

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Das Landgericht stellte mir in seinem Beweisbeschluss viermal die Frage: 
„Entsprach es dem Facharztstandard in der Allgemeinmedizin, dass …?“ ­Beispielsweise: „Entsprach es dem Facharztstandard, das vom Hausarzt ­verordnete Antibiotikum abzusetzen?“ Oder „… Codicaps mono, Ibuprofen und Codein-Tropfen zu verschreiben?“ Oder ob die die Anamnese jeweils vollständig gemäß des Facharztstandards erhoben wurde. Aber gibt es eigentlich einen ­allgemeingültigen Facharztstandard?

Der Sachverständigengutachter der Allgemeinmedizin muss feststellen: Einen „Facharztstandard“ gibt es nicht und nirgends. Es gibt kein Gremium in der verfassten Ärzteschaft, das ihn definiert, konsentiert und publiziert. Er muss im Einzelfall auf die individuelle Situation passend jeweils näherungsweise ermittelt werden.

Kann so ein „Konstrukt“ also „Standard“ sein?

Die Rechtsprechung möchte von einer solchen Festlegung ausgehen. Es gibt juristische Vorstellungen über den „medizinischen Standard“, von denen eine grundlegende lautet: „Nach dem Stand der medizinischen (Natur-)Wissenschaft und ärztlichen Erfahrung, der zum Erreichen des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat“ (Buchborn). Letztlich geht es meist darum, wie sich ein sorgfältig handelnder entsprechender Facharzt in der betreffenden Situation verhalten würde.
Das lässt sich näherungsweise beschreiben, ist für uns aber nicht „Standard“. Die Wissenschaft allerdings und die in ihr organisierten Leitlinienkommissionen befassen sich überwiegend mit vorab definierten Krankheiten und den davon abgeleiteten evidenzbasierten Maßnahmen; die Leitlinien der DEGAM behandeln zum Teil häufige Symptome oder Symptomkonstellationen. Leitlinien sind aber Inseln in einem Meer aus Ungewissheiten, gerade in der Allgemeinmedizin, die es ja oft mit Zuständen zu tun hat, die erst einer Klärung und Zuordnung bedürfen. Vorrangig sind in der Praxis dabei zunächst orientierende allgemeine Fragen zu klären, wie „gefährlich“, „abwendbar gefährlich“ oder „harmlos“, „einfach“ oder „nur mit apparativer oder spezialisierter Hilfe“ etwas ist– oder man dies „abwartend offen lassen“ kann.

Was war passiert, das zu den eingangs ­erwähnten Fragen geführt hat?

Die erfahrene Kollegin war im kassenärztlichen Notdienst am Wochenende zu einer ihr unbekannten, kaum Deutsch sprechenden, türkischen Patientin mittleren Alters wegen starkem Husten und dadurch akzentuiertem Kopfweh von den Angehörigen gerufen worden. Die Beschwerden waren trotz laufender hausärztlicher Antibiose seit mehreren Tagen nicht besser, sondern eher schlechter geworden. Nach dem Befund der Kollegin war der Auskultationsbefund der Lungen „o.B.“, der Blutdruck mit 120/80 mm Hg normal, und die Temperatur unter Novaminsulfon mit 38–39° nicht auffallend. Die Kollegin hielt das Antibiotikum bei dem von ihr angenommenen Virusinfekt für nicht wirksam, setzte es ab und verordnete Codein. Sie versprach bei ausbleibender Besserung wieder zu kommen.
Dazu wurde sie am Abend aufgefordert, weil die Patientin inzwischen anfallsweise hyperventilierte. Das deutete sie – nach längerer Beobachtung – als rein psychisch bedingt, gab deshalb 1 Tablette Bromazepam und verwies auf den Rettungsdienst bei weiter ausbleibender Besserung. Dieser wurde nach weiteren 24 Stunden gerufen. Der Rettungssanitäter stellte eine leichte Zyanose fest und daraufhin eine nicht mehr messbare Sauerstoff(-unter-)sättigung, sowie eine leichte klinische Besserung unter der dann erfolgten O2-Gabe. Bei der anschließenden stationären Aufnahme wurde dieser Wert bestätigt, wie auch der negative Auskultationsbefund über der Lunge. Nach wenigen Stunden auf der Intensivstation musste die Patientin aber intubiert und dann über Tage beatmet werden. Die Pneumonie wurde unter Beatmung im CT festgestellt und dokumentiert. Die Patientin brauchte Monate, um sich davon zu erholen, denn die Pneumonie war sehr untypisch, weil auch mit einer rheumatischen Vasculitis assoziiert.

Gibt es einen „Facharztstandard der ­Allgemeinmedizin“ für eine solche Situation?

Nein. Nach den wissenschaftlich geforderten Kriterien selbst der von Internisten verfassten Leitlinie zur – hier ja später festgestellten – Pneumonie waren die Entscheidungen der Kollegin rational nachvollziehbar, auch gerechtfertigt und damit „quasi fachärztlicher Standard“.
Genauso nachvollziehbar aber ist das Unverständnis der Angehörigen und die erfolgte Klage der Patientin, dass dieser prämoribunde Zustand nicht erkannt worden war, der dann solche schweren Folgen gehabt hatte. Die „standardgemäße“ Rationalität fokussiert eben auf die „Krankheit“ und ihre (typischen) Symptome, die hier nicht zu finden waren.
Ist daneben das nicht rational, sondern empathisch zu fühlende Wahrnehmen eines so schweren „Krank-Seins“ ein zu verlangender Facharztstandard in der Allgemeinmedizin? Für solche „Bauchgefühle“ müssen wir in der allgemeinmedizinischen Wissenschaft und Lehre wohl erst noch Kategorien und Skalen schaffen und publizieren, um sie eventuell zu „standardgemäßen“ Entscheidungshilfen werden zu lassen, sofern so etwas gelingt.

Autor: Prof. Dr. med. Gernot Lorenz

Quelle: Der Allgmeinarzt

Bildquelle: © Vilaysack – stock.adobe.com

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