Kognitive Störungen sind eine unterschätzte Nebenwirkung onkologischer Therapien. Viele Patientinnen und Patienten berichten über Konzentrationsstörungen, Wortfindungsschwierigkeiten, verminderte Merkfähigkeit oder verlangsamtes Denken – Symptome, die nicht selten das alltägliche Leben, die berufliche Wiedereingliederung und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen [1, 2]. Der Begriff Cancer-related Cognitive Impairment (CRCI), im Deutschen oft als krebsbedingte kognitive Dysfunktion (KBKD) bezeichnet, beschreibt diese kognitiven Veränderungen unabhängig davon, ob sie durch die Erkrankung selbst, durch die Therapie oder durch psychische und psychosoziale Belastungen ausgelöst werden [2, 3].
Prävalenz und Verlauf – Wie häufig ist CRCI?
Die Häufigkeit kognitiver Beeinträchtigungen im Kontext onkologischer Erkrankungen ist hoch – jedoch abhängig vom Erhebungsinstrument, der Tumorentität, dem Therapieverfahren und dem Zeitpunkt der Messung. In einer systematischen Übersichtsarbeit von Whittaker et al. berichteten bis zu 83 % der Brustkrebspatientinnen nach Chemotherapie subjektive kognitive Einschränkungen [5]. Objektive Tests zeigten jedoch nur bei etwa einem Drittel auffällige Ergebnisse.
Bernstein et al. analysierten 72 Studien zu kognitiven Funktionen bei Brustkrebspatientinnen mit und ohne Chemotherapie. Die Ergebnisse zeigten geringe bis moderate Effekte in verschiedenen Domänen – insbesondere im Arbeitsgedächtnis, in der Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Effektstärken (Cohen’s d) lagen im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen bei durchschnittlich –0,28 [6].
Kognitive Defizite können noch Jahre nach der Behandlung persistieren. Die Ursachen sind multifaktoriell: neurotoxische Effekte, hormonelle Veränderungen, entzündungsbedingte Prozesse und psychosoziale Faktoren spielen eine Rolle [7].
Besonders kritisch ist die Diskrepanz zwischen subjektiv erlebter und objektiv gemessener Einschränkung: Viele Patientinnen und Patienten empfinden ihre geistige Leistungsfähigkeit als deutlich reduziert, während Tests oft unauffällig bleiben oder nur subtile Veränderungen zeigen. Diese Inkongruenz wirft Fragen zur Validität der Messinstrumente und zur klinischen Relevanz der subjektiven Wahrnehmung auf – insbesondere im Hinblick auf psychosoziale Belastung und Alltagsfunktionalität [8, 9].
Diagnostik – subjektiv vs. objektiv: eine diagnostische Lücke?
Die Erfassung erfolgt meist entlang zweier Messpfade: standardisierter neuropsychologischer Tests und subjektiver Selbstbeurteilungsinstrumente. Während objektive Verfahren spezifische Domänen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Verarbeitungsgeschwindigkeit abbilden, spiegeln Selbstbeurteilungen das individuell erlebte Funktionsniveau im Alltag wider.
Ein etabliertes Instrument zur subjektiven Erfassung ist das FACT-Cog (Functional Assessment of Cancer Therapy – Cognitive Function), das vier Dimensionen unterscheidet: perceived cognitive impairment (PCI), perceived cognitive abilities (PCA), impact on quality of life (COG-QOL) und comments from others (COG-Other) [10]. In der MPMI-Studie diente die PCI-Skala mit einem Cut-off ≤ 55 als Einschlusskriterium [11].
Für die objektive Diagnostik werden häufig die TAP (Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung), der Trail Making Test (TMT) oder der Verbal Learning and Memory Test (VLMT) eingesetzt [11].
Die International Cognition and Cancer Task Force (ICCTF) empfiehlt, mindestens zwei kognitive Domänen – bevorzugt Lernen, exekutive Funktionen und Verarbeitungsgeschwindigkeit – zu erfassen. Eine kognitive Störung wird bei Leistungen ≤ –1,5 bis –2 SD vom Normwert angenommen [12].
In der klinischen Praxis zeigt sich jedoch häufig eine geringe Übereinstimmung zwischen subjektivem Erleben und objektiver Leistung [9]. Viele Patientinnen und Patienten empfinden eine deutliche Einschränkung ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, obwohl Testverfahren keine auffälligen Ergebnisse liefern. Mögliche Erklärungen reichen von kompensatorischen Strategien über ein hohes prämorbides Ausgangsniveau bis zu einer geringen Sensitivität der Tests für alltagsrelevante Veränderungen [9].
Zudem sind subjektive Beschwerden stärker mit psychischen Begleitsymptomen wie Fatigue, Schlafstörungen, Angst oder Depression assoziiert als mit der objektiven Testleistung [8]. Dies unterstreicht die Bedeutung eines kombinierten diagnostischen Vorgehens, das sowohl subjektives Erleben als auch kognitive Leistungsprofile berücksichtigt.
Intervention – Wie kann CRCI behandelt werden?
Trotz wachsender Evidenz bleibt die therapeutische Versorgung von CRCI im onkologischen Alltag lückenhaft. Zahlreiche Studien untersuchten kognitive Trainingsverfahren, Psychoedukation, achtsamkeitsbasierte Methoden und multimodale Ansätze.
In einer aktuellen Metaanalyse zeigten Cheng et al., dass insbesondere kombinierte kognitive Trainings – mit Gedächtnisübungen, Strukturhilfen und Aufmerksamkeitslenkung – subjektive und objektive Verbesserungen erzielen können [9]. Die Autoren betonen jedoch die methodische Heterogenität der Studienlage und den Bedarf an größeren randomisierten Studien.
Die MPMI-Studie (Memory and Psychomotoric Intervention) wird derzeit unter der Leitung von PD Dr. Elisabeth Jentschke am Uniklinikum Würzburg untersucht. Das Programm kombiniert kognitive Strategien mit psychomotorischen Übungen und wurde in manualisierter Gruppensitzung durchgeführt [11]. In der Pilotstudie zeigten sich Verbesserungen der subjektiv berichteten kognitiven Funktion sowie eine Reduktion der kognitiven Fatigue [11]. Besonders relevant: Auch die Funktionsfähigkeit im Alltag (z. B. Strukturierung, Priorisierung, Gesprächsführung) wurde verbessert – ein zentrales Anliegen vieler Betroffener.
Weitere vielversprechende Ansätze setzen auf Achtsamkeit und körperliche Aktivierung. Eine randomisierte Studie von Lengacher et al. untersuchte den Einfluss eines sechswöchigen MBSR- rogramms (Mindfulness-Based Stress Reduction) auf kognitive Einschränkungen bei Brustkrebspatientinnen – mit positiven Effekten auf Konzentration, Denkfähigkeit und mentale Erschöpfung [13].
Diskussion & Ausblick – Versorgungslücke mit Potenzial?
Kognitive Veränderungen im onkologischen Kontext sind für viele Patientinnen und Patienten ein häufig belastendes Thema – bislang jedoch kaum systematisch in der Versorgung abgebildet. Zwar hat sich das Wissen über CRCI deutlich erweitert, dennoch fehlen vielerorts feste diagnostische Algorithmen, interdisziplinäre Kooperationen und evidenzbasierte Interventionspfade [14].
Ein zentrales Hindernis liegt in der diagnostischen Grauzone zwischen subjektivem Erleben und objektiver Testleistung (▶ Abschnitt 2). Ohne auffälligen neuropsychologischen Befund bleibt CRCI häufig unberücksichtigt – obwohl Betroffene erhebliche Einschränkungen im Alltag, in sozialen Rollen und bei der beruflichen Wiedereingliederung erleben [15].
Pharmakologische Ansätze werden – abgesehen von Einzelfällen – nicht empfohlen. Dagegen zeigen
kognitives Training, Achtsamkeit, körperliche Aktivierung und psychoedukative Strategien vielversprechende, wenn auch heterogene Ergebnisse [16, 17]. Die Herausforderung liegt darin, alltagsnahe, akzeptable und wirksame Interventionen zu gestalten.
Programme wie das MPMI-Training könnten hier ansetzen: Es verbindet kognitive Aktivierung, Bewegung, Selbstreflexion und Gruppenerleben – mit dem Ziel, nicht nur einzelne Symptome,
sondern das gesamte Funktionsniveau zu stärken (▶ Abb. 1). Die laufende Evaluation unter Leitung
der Autorin, gefördert durch die Deutsche Krebshilfe, untersucht, inwieweit das Programm subjektive und objektive kognitive Funktionen sowie das psychische Wohlbefinden verbessert.

Langfristig braucht es strukturierte Versorgungspfade, in denen CRCI systematisch erfasst und behandelt wird – etwa durch feste psychoonkologische Ansprechpersonen, digitale Screening-Tools
und indikationsspezifische Therapieangebote. Eine engere Verzahnung von Onkologie, Psychoonkologie und Neuropsychologie wäre hier ein entscheidender Schritt.
Fazit
Krebsbedingte kognitive Einschränkungen (CRCI) sind für viele Patientinnen und Patienten eine unsichtbare, aber große Belastung. Sie beeinträchtigen zentrale Funktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Denkflexibilität und treten oft gemeinsam mit Fatigue, Schlafstörungen und emotionaler Belastung auf. Trotz wachsender Evidenz bleibt CRCI in der onkologischen Versorgung häufig unerkannt und unzureichend adressiert.
Erforderlich sind differenzierte diagnostische Zugänge, die subjektives Erleben und objektive Befunde kombinieren, sowie wirksame, alltagsnahe Interventionen. Multimodale Programme wie das MPMI-Training könnten hierbei eine zentrale Rolle spielen – vorausgesetzt, sie sind niedrigschwellig, digital zugänglich und individuell anpassbar.
Solche Angebote sollten fest in der psychoonkologischen Routine verankert werden – etwa durch Schulung von Fachpersonal, digitale Screening-Tools und interdisziplinäre Netzwerke. Denn wenn kognitive Funktionen nachlassen, braucht es konkrete Hilfen: wirksam, zugänglich, nachhaltig.
Literatur:
- Joly F et al. Impact of cancer and its treatments on cognitive function: Advances in research from the Paris International Cognition and Cancer Task Force Symposium. J Pendergrass JC et al. Cognitive impairment associated with cancer: A brief review. Innov Clin Neurosci 2018; 15(1–2): 36–44
- Lange M et al. Cancer-related cognitive impairment: An update on state of the art, detection, and management strategies in cancer survivors. Ann Oncol 2019; 30(12): 1925–40
- Országhová Z et al. Long-term cognitive dysfunction in cancer survivors. Front Mol Biosci 2021; 8: 770413
- Saita K et al. A scoping review of cognitive assessment tools and domains for chemotherapy-induced cognitive impairments in cancer survivors. Front Hum Neurosci 2023; 17: 1063674
- Whittaker AL et al. Prevalence of cognitive impairment following chemotherapy treatment for breast cancer: A systematic review and meta-analysis. Sci Rep 2022; 12(1): 2135
- Bernstein LJ et al. Cognitive impairment in breast cancer survivors treated with chemotherapy depends on control group type and cognitive domains assessed: A multilevel meta-analysis. Neurosci Biobehav Rev 2017; 83: 417–28 Pain Symptom Manage 2015; 50(6): 830–41
- Myers JS et al . Individual and combined effects of vasomotor symptoms and sleep quality on cognitive function in breast cancer survivors. Oncol Nurs Forum 2019; 46(2): 190–9
- Fardell JE et al. Screening for cognitive symptoms among cancer patients during chemotherapy:
- Sensitivity and specificity of a single-item self-report score. Psychooncology 2022; 31(8): 1294–301
- Cheng ASK, Li Y, Chan B et al. Neuropsychological interventions for cancer-related cognitive impairment: A network meta-analysis. Neuropsychol Rev 2022; 32(4): 893–905
- Wagner LI et al. Measuring patient self-reported cognitive function: Development of the Functional Assessment of Cancer Therapy–Cognitive Function instrument. J Support Oncol 2009; 7(6): W32–9
- Meng K et al. Efficacy of a memory and psychomotor training for cancer patients with cancer-related cognitive impairment: A study protocol of a randomized controlled trial. DRKS00027361 (2023)
- Wefel JS et al. International Cognition and Cancer Task Force recommendations to harmonise studies of cognitive function in patients with cancer. Lancet Oncol 2011; 12(7): 703–8
- Lengacher CA et al. Examination of broad symptom improvement resulting from mindfulness-based stress reduction in breast cancer survivors: A randomized controlled trial. J Clin Oncol 2016; 34(24): 2827–34
- Janelsins MC et al. Prevalence, mechanisms, and management of cancer-related cognitive impairment. Int Rev Psychiatry 2014; 26(1): 102–13
- Selamat MH et al. Chemobrain experienced by breast cancer survivors: A meta-ethnography study investigating research and care implications. PLoS One 2014; 9(9): e108002
- Von Ah D et al. Relationship between self-reported cognitive function and work-related outcomes in breast cancer survivors. J Cancer Surviv 2018; 12(2): 246–55
Interessenskonflikte:
E. Jentschke erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags keine Interessenkonflikte im Sinne der Empfehlungen des International Committee of Medical Journal Editors bestanden.
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Autorin:
Priv.-Doz. Dr. phil. Elisabeth Jentschke
Vorsitzende des Klinischen Ethikkomitees
Leitung: Psychoonkologischer, Neuropsychologischer und Gerontologischer Dienst
Universitätsklinikum Würzburg
Comprehensive Cancer Center Mainfranken mit Zentrum für Palliativmedizin
Sowie Neurologische Klinik und Poliklinik/Neurochirurgische Klinik und Poliklinik
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