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Primärarztsystem ohne Entbudgetierung sinnlos?

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mgo medizin Redaktion

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Ein Milliarden-Defizit lastet auf der gesetzlichen Krankenversicherung, bei durchschnittlich 9,6 Arztkontakten pro Jahr. Ist das Primärarztprinzip die Lösung? Wir fragen nach bei Dr. Max Tischler.

Ob und wie ein Primärarztsystem funktionieren kann, diskutierten Experten auf dem Hauptstadtkongress in Berlin. Aus dermatologischer Sicht knüpft der BVDD-Landesvorsitzende in Westfalen-Lippe klare Bedingungen an ein Primärarzt-System.

Das sagen Experten aus der Praxis…

Dr. Max Tischler ist niedergelassener Facharzt für Dermatologie in Dortmund. Er ist Mitglied der Vertreterversammlung der Ärztekammer Westfalen-Lippe, stellvertretender Landesvorsitzender im Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) sowie stellvertretender Landesvorsitzender des Hartmannbunds Westfalen-Lippe. Grundsätzlich betont Dr. Tischler wie viele andere die Notwendigkeit einer stärkeren Steuerung im Gesundheitssystem.  „Wichtig ist sicher, dass wir eine Steuerung im Gesundheitssystem brauchen. Daher ist der Vorschlag aus der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD erst einmal positiv. Fraglich ist, ob sich da nicht beim Hausarzt ein Flaschenhals bildet. Ich fände es schön, wenn in diesem Kontext auch eine digitale Überweisung eingeführt würde, um Prozesse zu vereinfachen.“

Dr. Max Tischler knüpft Primärarzt-Modell an Entbudgetierung und Ausnahmen für Vorsorge und Chroniker; ©drtischler.de

Dr. Max Tischler knüpft Primärarzt-Modell an Entbudgetierung und Ausnahmen für Vorsorge und Chroniker; ©drtischler.de

Um leichtere Diagnosen kümmern

Leichtere Fälle wie zum Beispiel Warzen oder Fußpilz möchte Dr. Tischler gerne beim Hausarzt ansiedeln oder in der „Digitalen Sprechstunde“ behandeln, die bereits heute angeboten wird. Um die stark überlaufenen Facharzt-Praxen für die komplexeren Indikationen offen zu halten, schlägt Dr. Tischler eine Strategie zur Vermeidung leichter Fälle in dermatologischen Praxen vor. „Eine Häufung komplexer Fälle im Primärarzt-System macht jedoch eine Entbudgetierung der Dermatologen unausweichlich. Zusätzlich müssen aufwändigere Patientenbehandlungen auch im Vergütungssystem abgebildet werden“, fordert der BVDD-Landesvorsitzende. Weniger Fälle mit höherer Komplexität bedeuten aus der Perspektive Max Tischlers bei gleichem Zeitaufwand, dass die Budgetierung verschwinden muss.

„Falls die Politik den Primärarzt ohne dermatologische Entbudgetierung will, werden alle Patienten, die direkt zu mir kommen, automatisch Selbstzahlerpatienten“, so Dr. Tischler. Diese Patienten unterschreiben vorab einen Behandlungsvertrag und erhalten dann eine GOÄ-Rechnung. „Einzige Alternative sind dermatologische Selektivverträge; ansonsten überweise ich diese Patienten in die Hautklinik.“ In jedem Fall legt der Hartmannbund-Vize die Privatabrechnung nahe, wenn ein Patient ohne obligatorische Hausarzt-Überweisung behandelt werden möchte. Allerdings sei es mehr als fraglich, ob die Versorgung dadurch verbessert werden könnte.

Primärarzt-Ausnahmen

Wenn Primärarztsystem und Entbudgetierung kommen, definiert Dr. Tischler klare Ausnahmen von der Hausarzt-Pflicht. Da die Koalition ja parallel zur Primärversorgung auch die Prävention stärken wolle, wäre es ungünstig, wenn jeder Patient für eine Hautkrebs-Vorsorge immer erst eine Überweisung vom Hausarzt benötigte. „Es muss nicht die gesamte Dermatologie vom Primärarzt-Vorbehalt ausgenommen sein, aber doch zumindest die Vorsorge gegen Hautkrebs. Sonst wird die Präventions-Quote noch weiter sinken“, macht der Dermatologe klar. Vorsorge müsse so niedrigschwellig wie möglich sein. Alles andere sei kontraproduktiv.

Eine weitere Ausnahme müssen laut Dr. Tischler dermatologische Patienten mit chronischen Hauterkrankungen inklusive Hautkrebserkrankungen sein. Das Ziel sei ja, die einfachen Fälle vom Facharzt fernzuhalten, damit Geld und Ressourcen eingespart werden können. „Wir sind uns einig“, unterstreicht Dr. Tischler, „dass eine schwere Neurodermitis, heller oder schwarzer Hautkrebs originär dermatologische Indikationen sind. Niemand würde in diesen Fällen sagen, dass sie beim Dermatologen falsch sind.“ Solche schweren chronischen Fälle gehören auch ohne Überweisung zum Dermatologen. Da sei der Dermatologe Primärarzt für seinen Fachbereich. In diesen Fällen dürfe es keinen Genehmigungszwang geben. Schuppenflechte, Neurodermitis und Hauttumore seien ja fixe Diagnosen mit einer Bindung an einen ICD-10-Code. „Für diesen Katalog aus vielleicht rund 30 bis 40 Diagnosen muss der Patient nicht zuerst wegen einer Überweisung zum Hausarzt. Die Verknüpfung mit den ICD-Codes würde Genehmigung wie Prüfung vereinbaren – bei Nutzung der Elektronischen Patientenakte (ePA) sogar vollkommen transparent.“

Über Primärarztmodelle und vernetzte Versorgung diskutierten in Berlin (v. l.) Prof. Josef Hecken, G-BA, Prof. Leonie Sundmacher, TUM School of Medicine and Health, Dr. Klaus Reinhard, BÄK sowie Petra Brakel, Knappschaft Bahn-See; ©Runkel

Über Primärarztmodelle und vernetzte Versorgung diskutierten in Berlin (v. l.) Prof. Josef Hecken, G-BA, Prof. Leonie Sundmacher, TUM School of Medicine and Health, Dr. Klaus Reinhard, BÄK sowie Petra Brakel, Knappschaft Bahn-See; ©Runkel

Fehlende Hausarzt-Überweisung

Eine Alternative ist für Dr. Tischler ein Revival der Praxisgebühr, die aber diesmal die gesetzlichen Krankenkassen einziehen müssten, wenn ein Patient ohne Überweisung zum Dermatologen geht. „Wenn es unbedingt der Facharzt sein soll, der die Praxisgebühr einzieht, dann müssen zusätzliche 5-10 Euro Verwaltungsgebühr in der Praxis bleiben“, macht Dr. Tischler klar. Es sei allemal klüger, den Patienten nicht über seinen Arzt zu steuern, sondern über die Krankenkasse, die ihm eine Rechnung schickt.

Ein differenziertes Bild der primärärztlichen Versorgung ergab sich auch bei einer Podiumsdiskussion auf dem Hauptstadtkongress. 2022 lag der finanzielle Ressourcenaufwand im deutschen Gesundheitssystem laut OECD bei 12,6 % des Bruttoinlandsprodukts; in der Europäischen Union waren es im Schnitt nur 10,4 %. Eine wissenschaftliche Expertin ist Prof. Leonie Sundmacher, Leiterin der TUM-School of Medicine and Health sowie Mitglied im Sachverständigenrat des Gesundheitswesens. „Von den 50 besten Krankenhäusern weltweit sind sechs deutsche Universitätskliniken; wir haben also in Deutschland eine sehr gute Spitzenmedizin.“ In den Ergebnis- und Prozessindikatoren der OECD schneidet Deutschland trotzdem durchschnittlich bis unterdurchschnittlich ab.

Das Grundproblem besteht darin, dass der Patient trotz der hohen Drehzahl des Gesundheitssystems nicht dort landet, wo die für ihn beste Versorgung ist. „Dieser völlig ungeregelte Zugang, den wir uns in Deutschland leisten, führt zu einer unglaublichen Schlagzahl in allen Einrichtungen – ohne dass dies inhaltlich erforderlich oder auch effizient wäre. Es braucht mehr Verbindlichkeit und mehr subsidiäre Strukturierung. Das hilft dem Patientenwohl und einer besseren Arbeitsökonomie“, machte Prof. Sundmacher klar.

Geringe Effekte von „Prosper“?

Primärarzt-Skepsis artikulierte Petra Brakel, Vorsitzende der Geschäftsführung bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (KBS). Die Knappschaft betreibt seit 25 Jahren ihr eigenes Primärversorgungsmodell „Prosper“. 1.800 Ärzte, je zur Hälfte Haus- und Fachärzte, bilden ein Arztnetz. „Wir hatten als Kasse viel Geld investiert, um die Patienten dorthin zu bringen, wo sie hingehören. Es gab jeweils einen Hausarzt, der die Überweisungen vornahm und vor allen Dingen einen intensiven Austausch mit Fachärzten sicherstellte. Eine Integrierte Versorgung sollte bis in die Klinik sichergestellt werden.“ Das Ergebnis ist ernüchternd: Weder spart die Kasse in der Versorgung Geld, noch ist die Patienten-Einschreibung beim Hausarzt gut angekommen.

Vor der ungesteuerten Versammlung aller Patienten in der Hausarzt-Praxis warnte Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses. Bereits jetzt fehlen laut Hecken 5.000 Hausärzte; es bringe rein gar nichts, jeden Patienten „erstmal zum Hausarzt zu schicken“. Deutschland habe das teuerste Gesundheitssystem nach den USA, die größte Arztdichte und trotzdem die längsten Wartezeiten und eine geringere Lebenserwartung als in anderen Ländern. „Für mich besteht die Frage, welche Facharzt-Disziplinen in ein Primärversorgungssystem eingebunden werden müssen“, so Hecken. Zudem müsse festgelegt werden, welche nicht ärztlichen Berufsgruppen und welche digitalen Tools notwendig seien. „Geld sparen wir damit nicht, aber dringend benötigte Personalressourcen. Es bewirkt außerdem mehr Zufriedenheit bei Ärzten und Patienten.“

BÄK lässt Frage unbeantwortet

Wer sollte denn steuern? Hausarzt, Facharzt oder beide? BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhard drückte sich ein wenig um die heikle Antwort herum. „In dieser Situation werden viele Fachgruppen zurecht sagen, dass dadurch Fälle und letztendlich auch Honorar verlorengehen. Dann kündigen diese Verbände an, dass sie sofort aufhören werden mitzumachen. Ich habe großes Verständnis dafür“, bekannte Dr. Reinhard. Das System sei so, dass Ärzte ihre wirtschaftliche Situation durch eine Fallvermehrung verbessern könnten. Kluges wirtschaftliches Verhalten bestehe also gar nicht darin, viel Aufwand für kranke Menschen zu betreiben. Es scheint so, als ob die Reform tiefer ins EBM-Honorarsystem eingreifen muss, um wirkliche Veränderungen zu bewirken.

Franz-Günter Runkel
(fgr)

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Bilderquelle: © Yuparet – Stock Adobe

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