Aus UroForum Heft 02/2025
Wolfgang Rösch
Robotik, Humangenetik und künstliche Intelligenz (KI) werden die weitere Entwicklung der Kinder- und Jugendurologie maßgeblich bestimmen. Vor dem Hintergrund sinkender Geburtenraten und verkürzter Arbeitszeiten erscheint die Bildung hochspezialisierter Zentren unumgänglich, um Expertise und qualifizierte Weiterbildung auch in Zukunft gewährleisten zu können. Für die flächendeckende Basis-Kinder- und Jugendurologie werden dann aber nur die nicht stationären Prozeduren verbleiben.

Vergleichbar mit der Situation in den USA und Kanada hat sich die Kinder- und Jugendurologie in den letzten Jahren auch in Europa mehr und mehr zu einem eigenständigen und selbstbewussten Fachgebiet entwickelt. Aus der Sicht eines immer noch passionierten Kinderurologen gibt es tatsächlich auch kaum eine andere urologische Subspezialität, die ein so breites Spektrum umfasst: von den Herausforderungen immer früherer pränataler Diagnosen und Therapien, die zu neuen Entitäten im Patientenklientel führen, bis hin zu einer strukturierten Transition bzw. Betreuung Erwachsener mit ehemals kongenitalen Anomalien des Urogenitaltrakts, die sich in der Erwachsenen-Urologie nicht verstanden und adäquat versorgt fühlen.
Neue Technologien erweitern Spektrum der Kinderurologie
Längst hat die Robotik auch in der Kinderurologie Einzug gehalten. Die ersten Ergebnisse zur extravesikalen Harnleiterneueinpflanzung erschienen bereits 2008 [1]. Wenngleich die robotisch assistierten Eingriffe im Alter unter zwei Jahren bislang keine überzeugenden Vorteile gegenüber der offenen Chirurgie vorweisen können, überzeugen die Anlage katheterisierbarer Stomata (z. B. Mitrofanoff) und die Blasenaugmentation im Vor- und Grundschulalter durch die deutlich geringere Invasivität und tendenziell niedrigeren Komplikationsraten.
Ebenso werden die robotergestützte organerhaltende Wilmstumor-Resektion und die funktionelle Blasenhalsrekonstruktion im Kleinkindesalter in den nächsten Jahren ihren Einzug in die Routine finden. Unterstützt wird dieser Trend sicher noch durch die künftigen Verbesserungen der Systeme mit zunehmendem Einsatz der KI (z. B. Haptik, aber auch Standard-Einzelschritte).
Es werden aber vor allem die Innovationen externer Fachgebiete sein, die wesentlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kinderurologie haben werden. Ohne auf die einzelnen Bereiche an dieser Stelle näher eingehen zu können, ist mittel- bis langfristig gesehen davon auszugehen, dass Tissue Engineering, Stammzelltherapie und die Transplantationsmedizin die rekonstruktiven Möglichkeiten enorm erweitern und verbessern werden.
Die Humangenetik liefert uns bereits jetzt zunehmend Erkenntnisse zur genetischen und epigenetischen Determination kongenitaler Anomalien. Unter anderem werden damit immer zuverlässigere Aussagen zur Prognose einer kongenitalen Anomalie bereits pränatal möglich. Für den klinischen Alltag werden aber vor allem die funktionellen Implikationen der Genetik von Bedeutung sein, wie zum Beispiel die Vulnerabilität der urogenitalen Schleimhaut gegenüber Infektionen oder das Risiko embryonale Tumoren (z. B. Wilms Tumor) zu entwickeln [2]. Weiterhin werden mithilfe der Genetik Aussagen über das Risiko einer Tumorentstehung im Laufe des Lebens bei kongenitalen Anomalien möglich sein und dementsprechend adaptierte Präventionsmaßnahmen definiert werden [3].
Schließlich wird auch künstliche Intelligenz (KI) aus dem kinderurologischen Alltag nicht mehr wegzudenken sein. Neben den klassischen Einsatzbereichen wie Arztbrieferstellung, Dokumentation und Medikation werden Diagnostik (Organprobleme schon im Ansatz erkennen) und „Machine-Learning“ Einzug in den klinischen Alltag finden. Verlaufsprognosen chronischer Erkrankungen werden immer konkreter (z. B. Risiko einer terminalen Niereninsuffizienz bei Vorliegen einer Refluxkrankheit [4]).
Die Zeit bis zur endgültigen Diagnose einer seltenen Erkrankung (SEK) kann bereits heute durch Einsatz der KI von bisher acht Jahren auf sechs Monate verkürzt werden! Zudem birgt die KI gerade für die Kinderurologie ein bisher noch nicht überschaubares Potenzial beim Einsatz in der Robotik, in der Stammzelltechnologie und in der Humangenetik [5].
Re-Organisation der Strukturen als Zukunft der Kinderurologie
Doch was nützen neue Technologien, wenn sie aufgrund nicht mehr zeitgemäßer Strukturen nicht zur Anwendung kommen können? Über die letzten 20 Jahre ist eine enorme Zunahme „kinderurologisch Tätiger“ zu verzeichnen. Demgegenüber steht die dramatisch sinkende Zahl an Neugeborenen, insbesondere mit SEK bzw. komplexen kongenitalen Anomalien. Allein schon diese Kombination gefährdet die Schaffung und Einhaltung von Standards, den chirurgischen Fortschritt und die Weiterbildung.
Die Kinderurologie war in Deutschland viel zu lange kein geschützter Begriff und es gibt viel zu viele Standorte „die alles können“. Eine standortübergreifende Weiterbildung konnte bislang ebenso wenig etabliert werden wie eine strukturierte Nachsorge für Transition und Erwachsene mit ehemals urogenitalen Fehlbildungen. Das immer stringenter werdende Arbeitszeitgesetz und der zunehmende Wunsch nach Teilzeitanstellung, resultieren schon jetzt in einer Abnahme der klinischen Erfahrung mit seltenen Erkrankungen und einer immer flacher werdenden Lernkurve in allen Bereichen.
Last but not least finden derzeit kinderurologisch interessierte Kolleginnen und Kollegen aufgrund zu weniger Zentren, aber gleichzeitig einer Fülle viel zu kleiner Abteilungen ohne ein klinisch und akademisch angemessenes Spektrum, kaum eine vernünftige Weiterbildungsstätte. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die Zukunft der Kinder- und Jugendurologie zunächst einer grundlegenden Re-Organisation der Strukturen bedarf. Wenn der Präsident der Bundesärztekammer Reinhardt aktuell „mutige Reformschritte im Gesundheitswesen“ fordert, bedeutet das für die Kinderurologie eine konsequente Zentrumsbildung mit hohen Fallzahlen und mindestens drei Fachärztinnen oder -ärzten mit der Zusatzqualifikation Kinder- und Jugendurologie.
Die hohen Fallzahlen sind essenziell für die persönliche Erfahrung der bereits Qualifizierten, für die Weiterbildung und für die Lösung seltener Probleme (Ph. Ransley: „…the less common the problem the more important numbers become.“) [6].
Drei Fachärztinnen oder -ärzte sind erforderlich, um bei zunehmendem Anteil Teilzeitbeschäftigter realistisch einen arbeitszeitgesetz-konformen Dienstplan erstellen zu können, der auch in Urlaubs- und Krankheitszeiten eine gleichbleibende Qualität in der Patientenversorgung gewährleistet. Dazu kommen Aufgaben in der Weiterbildung, Teilnahme an Registern und die wissenschaftliche Tätigkeit.
Das Management komplexer Fehlbildungen wie BEEK, Kloaken-Anomalien, DSD, cLUTO, bilateral ektope Harnleitermündung bei Monoanlagen, Prune-Belly-Syndrom, ektope Ureterozelen etc. erfordern eine enorm hohe Expertise und chirurgische Erfahrung, um mit möglichst wenig Interventionen die Lebensqualität dieser Patienten langfristig zu optimieren. Gleiches gilt für den dilatierenden vesikoureteralen Reflux und die proximalen Hypospadie-Formen.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten rasch auf Kosten der Qualität gehen werden. Der „case-load“ einer Abteilung wird auch in Zukunft für die Weiterbildung entscheidend sein. Aufgrund der bereits geschilderten Problematik bedarf es jedoch ergänzender Maßnahmen, wie strukturierte Lernprogramme und vor allem die Gründung von Weiterbildungsverbünden. In der Allgemeinmedizin wurde dieses Konzept bereits erfolgreich umgesetzt [7]. Für die flächendeckende kinderurologische Basisversorgung verbleiben die primär nicht stationären Leistungen weiterhin heimatnah in den urologischen und kinderchirurgischen Kliniken und Praxen. Die ambulanten Strukturen müssen dazu weiter ausgebaut und die Leistungen angemessen honoriert werden. Diese Indikationen sind bekanntermaßen Bestandteil des Facharzt-Weiterbildungskatalogs sowohl für Urologie als auch für Kinderchirurgie.
Chancen auf Finanzierung von Projekten größer als je zuvor
Im internationalen kinderurologischen Publikationsranking liegt die deutsche Kinderurologie derzeit weit abgeschlagen hinter Nordamerika und vielen europäischen Ländern. Dabei gäbe es zahlreiche Möglichkeiten zur Teilnahme an internationalen Studien, interdisziplinären Forschungsvorhaben (Nephrologie, Humangenetik, Andrologie etc.) und europäischen Joint-Projekten (z. B. ERDERA). Insbesondere translationale Projekte vom Labor bis zur klinischen Anwendung werden aktuell national und international großzügig gefördert. „Zu wenig Zeit“ – „Keine finanziellen Mittel“ sind keine Argumente mehr. Wer nur jammert, verliert die Zeit zum Handeln!
Die Chancen der Finanzierung und damit Realisierung kinderurologischer Projekte sind aktuell größer als je zuvor. Neben nationalen nicht onkologischen Ausschreibungen werden vom European Reference Network (ERN eUROGEN) nur für die Kinderurologie in den nächsten fünf Jahren Forschungsgelder in Höhe von 27 Mio. Euro bereitgestellt.
Kein „sexy“ Fach?
Die Kinder- und Jugendurologie ist inzwischen viel zu komplex, um nur ein Nischenfach zu sein. Neben einer dem Bedarf angemessenen Zahl an qualifizierten Zentren sind gerade jetzt Engagement und Ideen aller Beteiligten gefragt, um auch hierzulande zeitgemäße Strukturen aufzubauen. Mit der zunehmenden Fokussierung der Urologie auf die Onkologie galt die Kinderurologie lange Zeit für viele junge Kolleginnen und Kollegen als kein sexy Fach.
Inzwischen ist sie jedoch weltweit zu einer eigenständigen und selbstbewussten Subspezialität geworden, die ein ungewöhnlich breites klinisches und wissenschaftliches Betätigungsfeld bietet. Während die chirurgischen Maßnahmen in der Uro-Onkologie möglicherweise an Bedeutung verlieren werden, wird die rekonstruktive Chirurgie, nicht zuletzt auch durch die neuen Technologien, langfristig an Bedeutung gewinnen.
Die Behandlung seltener Erkrankung wird künftig den ERN-Zentren vorbehalten bleiben und dadurch mehr und mehr „europäisch“ werden. Philip Ransley, einer der erfahrensten Kinderurologen weltweit geht sogar noch weiter: „…we need to begin to see pediatric urology as a global cause, a global family.“ [6]. Die Ergebnisse, die Weiterbildung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden davon nachhaltig profitieren.
Zudem rücken schon jetzt Lebenserwartung und -qualität der Betroffenen mit ehemals kongenitalen Anomalien vermehrt in den Fokus. Deshalb werden auch Transition und Langzeitbetreuung Betroffener im Erwachsenenalter eine wichtige Aufgabe dieser Zentren in Zusammenarbeit mit qualifizierten niedergelassenen Urologen sein. Die Kinderkardiologen haben dieses Konzept mit ihrem EMAH-Programm bereits erfolgreich umgesetzt (https://emah.dgk.org).
Zugegeben, die Herausforderungen sind groß, aber alle Kinder haben ein Recht auf eine optimale, leitlinien-konforme Behandlung – auch in Deutschland. ◼
Literatur beim Verfasser

Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Wolfgang Rösch, FEAPU
Klinik für Kinderurologie
KUNO-Kliniken Regensburg
Standort St. Hedwig
Steinmetzstr. 1–3
93049 Regensburg
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