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Alles was Recht ist: Anforderungen an eine Behand­lung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung

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Alles was Recht ist: Anforderungen an eine Behand­lung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung

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Erschienen in: UroForum

Aus UroForum Heft 10/2024

Stephanie Wiege

§ 1631e BGB normiert, dass Eltern und andere sorgeberechtigte Personen nicht das Recht haben, bei einem Kind mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ einer Behandlung zuzustimmen, wenn es ausschließlich darum geht, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzupassen. Vielmehr muss ein weiterer Grund für die Behandlung hinzutreten. Aber auch dann können die Eltern nur dann in geschlechtszuweisende Operationen einwilligen, wenn diese nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden können. Hierzu benötigen sie zudem der familiengerichtlichen Genehmigung. Mit dem Beschluss des AG Mannheim vom 06.03.2024 (AZ: 8 F 1366/24) wurde nun erstmals eine Entscheidung zu den Anforderungen an eine gerichtliche Genehmigung der Einwilligung in geschlechtsangleichende Operation eines Kindes veröffentlicht.

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Der Fall

Der Fall betrifft ein im Jahr 2023 geborenes Kind, bei dem ein klassisches Adrenogenitales Syndrom (AGS) mit Salzverlust vom Typ 21-Hydroxylasemangel besteht. Aufgrund dieser Erkrankung produzierte der eigentlich weibliche Körper bereits pränatal vermehrt Sexualhormone (Androgene), die in ihrer Wirkung dem männlichen Sexualhormon Testosteron entsprechen. Dies verursachte eine Störung der Trennung von Harn- und Geschlechtstrakt, was dazu führte, dass die Betroffene mit ­einem ­Sinus urogenitalis ­geboren wurde. Das bedeutet, dass bei ihr die Harnröhre und die Vagina in einem gemeinsamen Ausführungsgang enden. Dieser sitzt an der Spitze der Klitoris, welche deutlich vergrößert ist und eine penisartige Struktur aufweist. Aufgrund der fehlenden Trennung von Harn- und Geschlechtstrakt kommt es zu einer Flüssigkeitsfüllung in der Vagina und der Gebärmutter mit Urin, da diese unmittelbar mit der Harnblase verbunden sind.

Damit einher geht ein erhöhtes Risiko von Harnwegsinfekten, welche im Zusammenspiel mit der vor­handenen Nebenniereninsuffizienz zu einer lebensbedrohlichen Krise (Addison-Krise) führen können. Daneben könnte die Betroffene aufgrund des derzeit fehlenden Vaginaleingangs später keinen Geschlechtsverkehr haben. Die Betroffene ist dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen. Ihre inneren weiblichen Geschlechtsorgane sind unauffällig. Ihr Chromosomensatz ist weiblich und es sind Eierstöcke sowie eine Gebärmutter vorhanden.
Die sorgeberechtigten Eltern begehren die gerichtliche Genehmigung der Einwilligung in eine Operation nach § 1631e BGB. Ihrem Antrag beigefügt war die Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission im Sinne des § 1631e Abs. 4 BGB, welche die Durchführung des operativen Eingriffs bei der Betroffenen zur Trennung von Urethra und Vagina „zur Abwehr einer Gefährdung des Kindeswohles durch Komplikationen bei Unterlassung“ empfiehlt.

Die Entscheidung

Das AG Mannheim hat dem Antrag auf familiengerichtliche Genehmigung der Einwilligung in den operativen Eingriff zur Behandlung der Sinus urogenitalis bei der Betroffenen gemäß § 1631e Abs. 2, Abs. 3 BGB stattgegeben. Es führte hierzu aus, dass die Kindeseltern in operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung, die eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes des Kindes an das männliche oder weibliche Geschlecht zur Folge haben könnte, nur einwilligen können, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann (§ 1631e Abs. 2 S. 1 BGB). Sofern dieser operative Eingriff nicht zur Abwehr einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Kindes erforderlich ist und daher nicht bis zur Erteilung der Genehmigung aufgeschoben werden kann, bedarf diese Einwilligung der Genehmigung des Familiengerichts (§ 1631e Abs. 3 S. 1 BGB).

Diese Voraussetzungen sah das AG Mannheim als erfüllt an. Das bei dem Kind diagnostizierte AGS ist eine Variante der Geschlechtsentwicklung nach der DSD-Klassifikation gemäß der Chicago-Konsensuskonferenz 2005 (vgl. S2k-Leitlinie 174 / 001: Varianten der Geschlechtsentwicklung, Stand: 07 / 2016: „Androgenexzess; fetal [z. B. AGS bei 21-Hydroxylase-Defekt]“).

Der operative Eingriff hat eine Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes der Betroffenen an das weibliche Geschlecht zur Folge, da bei der Operation die Urethra von der Vagina getrennt wird und ein normal weiter Vaginaleingang in den Damm eingepflanzt wird. Dieser Eingriff kann nach Überzeugung des Gerichts auch nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung der Betroffenen aufgeschoben werden. Denn aufgrund der Sinus urogenitalis besteht das Risiko einer Harnwegsinfektion, die aufgrund der mit AGS einhergehenden Nebenniereninsuffizienz zu einer lebensbedrohlichen Krise führen kann. Die Genehmigung war vorliegend aus Sicht des Gerichts zu erteilen, da der geplante Eingriff dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1631e Abs. 3 S. 2 BGB).

Das Gericht verweist insoweit nicht nur auf die gesetzliche Vermutung des § 1631e Abs. 3 S. 3 BGB, sondern auch die aus Sicht des Gerichts überzeugende Stellungnahme der interdisziplinären Kommission, wonach die Operation im frühen Kindesalter medizinisch notwendig ist, um Schaden vom Kind abzuwehren. Würde der Eingriff unterbleiben, bestünde die erhöhte Gefahr, dass das Kind fehlbildungsbedingte Probleme wie gehäufte urogenitale Infekte, aufsteigende Blasenentzündungen und Nephritiden bei Pendelurin mit Aufstau in der Vagina erleidet. Auch die Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes an das weibliche Geschlecht entspricht nach Auffassung des Gerichts dem Wohl der Betroffenen am besten. Ihre inneren Geschlechtsorgane sind unauffällig weiblich. Sie besitzt einen normalen weiblichen Chromosomensatz (46, xx) sowie Eierstöcke und eine Gebärmutter. Die Angleichung ist keineswegs ausschließlich kosmetisch indiziert, sondern aus medizinischen Gründen erforderlich.

Fazit

Die gesetzlichen Anforderungen an eine Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung sind diffizil und beinhalten auch für die beteiligten Behandler „Stolperfallen“. Selbstverständlich muss der in Rede stehende Eingriff dem aktuellen medizinischen Standard entsprechen. Ob dies vorliegend der Fall war, dazu findet sich in der Entscheidung des AG Mannheim leider nichts, weshalb diese nicht nur positive Reaktionen im juristischen Schrifttum hervorgerufen hat. Allein der Hinweis auf die S2k-Leitlinie 174 / 001 (aus dem Jahr 2016) kann eine Ermittlung des aktuell geltenden Standards nicht ersetzen. Jedenfalls gilt für Behandler zu beachten, dass keine Behandlungen durchgeführt werden dürfen, die ausschließlich dem Zweck dienen, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an die binäre Geschlechtervorstellung anzupassen. ◼

Dr. jur. Stephanie Wiege
Fachanwältin für Medizinrecht
Fachanwältin für Strafrecht
Ulsenheimer Rechtsanwälte PartGmbB
Maximiliansplatz 12
80333 München
www.uls-frie.de
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