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Ein Gespräch mit Prof. Othmar Moser

Symbolbild, Sportlerin mit CGM-System und Insulinpumpe

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Typ-1-Diabetes

mgo medizin

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11 MIN

Erschienen in: diabetes heute

In einem exklusiven Interview spricht Prof. Othmar Moser über die Herausforderungen und Errungenschaften bei der Erstellung der internationalen Leitlinie „Sport und Typ-1-Diabetes“. Er gewährt Einblicke in die komplexen Prozesse, die hinter den Kulissen ablaufen, und betont die immense Verantwortung, die mit einer internationalen Veröffentlichung einhergeht.

Herr Prof. Moser, auf der Diatec 2025 bezeichneten Sie sich selbst als „Bewegungspapst“ und sprachen über die Vorteile von CGM-Systemen bei der Bewegungstherapie. Glauben Sie, dass Bewegung als Therapieansatz in der Diabetologie oft unterschätzt wird?
Prof Moser: Ich denke, dass viele niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie Diabetesberaterinnen und -berater die positiven Effekte von Bewegung und Sport durchaus kennen.
Allerdings sehe ich meine Aufgabe darin, zu zeigen, wie man die Bewegungstherapie praktisch und wirtschaftlich in den Klinik- oder Praxisalltag integrieren kann. Wir müssen ehrlich zueinander sein, dass keine Ärztin und kein Arzt eine halbe Stunde Zeit hat, um einem einzigen Betrof­fenen zu erklären, was er oder sie wie zu tun hat. Das wäre nicht wirtschaft­lich.
Mir geht es deshalb darum, einfache und evidenzbasierte Ansätze aufzuzeigen, die wenig Zeit in Anspruch nehmen, damit das medizinische Fachpersonal diese leichter umsetzen kann.

Wie kann dies konkret in der Praxis aussehen?
Prof. Moser: In unserer Schwerpunktambulanz in Graz haben wir strukturierte Gesprächsleitfäden entwickelt, die uns helfen, effizient mit den Patientinnen und Patienten zu kommunizieren. Diese Leitfäden sind speziell auf Typ-1– und Typ-2-Diabetes abgestimmt und ermöglichen es uns, schnell und gezielt zu arbeiten. Das heißt, ich schweife da nicht ab, ich rede sehr konkret und komme dann sehr schnell durch den Leitfaden.
Die CGM-Technologie spielt dabei eine entscheidende Rolle. Zu Beginn müssen Beratende einmal viel Zeit investieren, den Betroffenen die Technik und deren Anwendung zu erklären, aber danach ist es eigentlich ein Selbstläufer. CGM ermöglicht es Menschen mit Diabetes, zu Hause in ihrem Alltag – in Echtzeit – zu sehen, wie sich ihre Aktivitäten auf ihren Blutzuckerspiegel auswirken. Das ist viel mehr, als was ich ihnen beibringen könnte. Diese unmittelbare Rückmeldung motiviert die Betroffenen, regelmäßiger Sport zu treiben und ihre Gesundheit aktiv zu managen.

Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was in der Diabetespraxis den Betroffenen empfohlen wird und dem, was sie dann im Alltag umsetzen. Denken Sie, dass CGM an diesem Ungleichgewicht etwas ändert?
Prof. Moser: Ich denke, dass wir als Beratende oft naiv sind und glauben, dass die Betroffenen – ich sag es jetzt mal plakativ – zu unwissend sind und das nicht verstehen. Sie verstehen aber sehr wohl, dass der Sport wirkt. Aber es wirkt einfach deutlich besser, wenn die Patientinnen und Patienten es als Selbstwahrnehmung erfahren. CGM bietet den Menschen mit Diabetes eine direkte Rückmeldung über die Auswirkungen ihrer Lebensstilentschei­dun­gen. Wenn Betroffene sehen, dass ihr Blutzucker durch einen Spaziergang von 220 auf 120 mg/dL sinkt, verstehen sie die Bedeutung von Bewegung viel besser. Diese Selbstwahrnehmung motiviert sie, regelmäßiger Sport zu treiben. CGM ist ein wertvolles Tool, das uns hilft, die Idee von Bewegung und Sport als Therapie bei Diabetes wirklich umzusetzen.

Prof. Othmar Moser arbeitet in Graz in einer Diabetes-Schwerpunktambulanz und hat an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl „Exercise Physiology and Metabolism, Institut für Sportwissenschaft“ inne.

Kurz vor Weihnachten letzten Jahres erschien die internationale Leitlinie zu Sport und Typ-1-Diabetes, die Sie gemeinsam mit einer Co-Autorin verfasst haben. Kurz vor der Veröffentlichung haben Sie auf einer Veran­stal­tung gesagt, dass Sie das ein drittes Mal nicht machen, weil das dann Ihre Ehe kosten könnte. Wie lief denn der Erstellungsprozess ab?
Prof. Moser (lacht kurz): Also das war nicht ganz ernst gemeint, meine Frau würde sich nicht von mir trennen. Eigentlich war das für uns auch eine schöne Zeit, da wir gemeinsam an dem Projekt gearbeitet haben. Sie hat alle Grafiken in der Leitlinie gezeichnet.
Auf der anderen Seite ist die Erstellung einer solchen Leitlinie wirklich ein sehr umfangreicher und komplexer Prozess, der viel Zeit und Koordination erfordert.
Gemeinsam mit Dessi Zaharieva von der Stanford University und 24 von der EASD und ISPAD genehmigten Co-Autoren haben wir intensiv daran gearbeitet. Der Prozess dauerte etwa 15 Monate, in denen wir täglich an dem Text gefeilt haben. Insgesamt mussten wir elf Versionen der Leitlinie erstellen, bevor wir die erste finale Version hatten, die von allen Co-Autoren akzeptiert wurde.
Was viele nicht wissen, ist, dass jeder Punkt von allen Co-Autoren akzeptiert werden musste, was ein hohes Maß an Konsensbereitschaft erforderte. Es war demnach entscheidend, dass wir eine breite Zustimmung unter den ausgewählten internationalen Expertinnen und Experten erzielen konnten. Wenn es da zu Streitigkeiten kommt, muss manchmal sogar ein externer Mediator hinzugezogen werden.
Anschließend geht das in ein Vor-Begutachtungsverfahren, in dem wird die Leitlinie von drei Menschen mit Typ-1-Diabetes, drei Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes und drei Jugendlichen mit Diabetes von verschiedenen Kontinenten bewertet.

Diese Rückmeldungen wurden dann in die Leitlinie integriert und dann musste erneut ein vollständiger Konsens im Schreibteam erreicht werden. Es folgte der nächste Review-Prozess durch Fachleute der euro­päi­schen Diabeteskommission (EASD) sowie der internationalen Kinderdia­be­tes­kom­mis­sion (ISPAD).
Nach einer erneuten Überarbeitung reichten wir die Leitlinie schließlich bei zwei wissenschaftlichen Journalen ein. Insgesamt hatte ich für diese Leitlinie ca. 30 Gutachten, also mehr als Co-Autoren. Sie sehen, das Endprodukt ist das Ergebnis vieler Stunden harter Arbeit und zahlreicher Abstim­mun­gen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die beteiligten Expertinnen und Experten in verschiedenen Zeitzonen leben und Meetings dementsprechend oft 3 oder 4 Uhr morgens stattfanden. Es steckt sehr viel mehr dahinter, als „nur“ etwas niederzuschreiben.

Das zeigt eindrücklich, wie komplex und anspruchsvoll der Erstellungsprozess ist. Gab es Momente, in denen Sie sich dem Konsens beugen mussten, und wie zufrieden sind Sie mit dem Endergebnis?
Prof. Moser: Ja, es gab ein paar Punkte, bei denen ich nachgeben musste. In einem Team von internationalen Expertinnen und Experten verliert man sich leicht im Detail, und nicht alle Ansichten können immer übereinstimmen. Bei ein bis zwei Passagen wurde es komplexer, als ich es mir gewünscht hätte, aber ich habe den Konsens akzeptiert.
Die Verantwortung bei einer internationalen Leitlinie ist enorm und liegt schwer auf meinen Schultern. Wenn in einer solchen Veröffentlichung ein Fehler gemacht wird, hat das weitreichende Auswirkungen, die nicht einfach durch ein Erratum korrigiert werden können. Diese Verantwortung bedeutet, dass jeder Schritt mit größter Sorgfalt und Präzision durchgeführt werden muss. Während dieser inten­siven Arbeitsphase konnte ich zudem deutlich weniger eigene Studien beenden bzw. Daten publizieren. Entgegen manchen Vorstellungen geht es hier am Ende nicht um den persönlichen Erfolg, sondern um den Inhalt. Der Inhalt übertrifft jede Person in der Autorenschaft.
Trotz dieser Herausforderungen bin ich sehr zufrieden mit dem Endergebnis. Ich habe das Gefühl, dass wir das Bestmögliche erreicht haben. Mehr hätte ich intellektuell nicht leisten können. Ich bin unglaublich dankbar für die Unterstützung aller Co-Autoren, der EASD und der ISPAD. Ohne ihre massive Unterstützung wäre dieses Werk nicht möglich gewesen.

Wir haben gemeinsam etwas geschaffen, das jetzt international genutzt werden kann. Das macht mich stolz.

Wie wünschen Sie sich, dass die Leitlinie im deutschsprachigen Raum genutzt wird?
Prof. Moser: Es wird ziemlich sicher eine offizielle ÖDG/DDG-Leitlinie geben, die auf unseren Empfehlungen basiert und auch alle Grafiken enthält. Wir wünschen uns, dass die Leitlinie möglichst schnell in deutschen Kliniken und diabetologischen Praxen genutzt wird.
Darüber hinaus planen wir die Verbreitung von Informationsmaterialien für die Diabetesschulungen. Dazu sollen die Empfehlungen für die einzelnen AID-Geräte als Drehräder im großen Maßstab produziert werden.
Wir wünschen uns aber auch, dass alle Menschen mit Diabetes die Leitlinie im Alltag umsetzen.
Deswegen planen wir, dass jeder Betroffene sich die Empfehlungen für sein eigenes AID-System als Drehrad kostenlos bestellen kann.

AID-Systeme bieten natürlich viele Vorteile. Auf mich als Mensch, der nicht mit Diabetes leben muss, wirken die Ausführungen in der Leitlinie auf den ersten Blick sehr komplex. Jedes System erfordert unterschiedliche Einstellungen und jede sportliche Betätigung muss genau geplant werden. Können diese Systeme Hürden für Menschen mit Diabetes darstellen, die unsicher sind, wie sie Sport treiben sollen?
Prof. Moser: Ich glaube, es ist genau das Gegenteil. Menschen laufen oder joggen oft nicht, weil sie nicht wissen, wie sie ihr AID-System optimal nutzen können. Unsere Leitlinie soll genau hier helfen, indem sie zeigt, welche Optionen es für die einzelnen Geräte gibt. Ein Mensch mit Typ-1-Diabetes kann sich aus den Grafiken dann ein bis zwei Punkte herausgreifen, die schnell umsetzbar sind. Der Vorgang geht sehr schnell, und man muss nur das Gerät, das man selbst benutzt, gut kennen.
Unsere Leitlinie hilft dabei, individuelle Probleme zu identifizieren und rasch Lösungen zu finden. Wir haben die Leitlinie so formuliert, dass medizinisches Fachpersonal und Diabe­tes­beraterinnen und -berater genau wissen, wie sie den Sportmodus starten können. Das internationale Feedback, das wir bisher erhalten haben, war durchweg positiv, was zeigt, dass unsere Simplifizierung gut funktioniert hat, besser sogar als bei der Leitlinie von 2020.

Würden Sie also sagen, dass AID-Sys­teme denjenigen, die beim Sport der Technik ängstlich gegenüberstehen, eher den Weg erleich­tern, weil sie durch Leitlinien, wie die Ihre, klare Anleitungen erhalten?
Prof. Moser: Absolut. Wenn ich mit meiner Erkrankung ein Problem habe, möchte ich einen einfachen Lösungsweg präsentiert bekommen, und genau das bieten diese Systeme.
Ob der Blutzucker hoch, niedrig oder stabil ist, es gibt immer eine passende Antwort.
Besonders für Menschen, die frisch die Diagnose erhalten haben und vorher sportlich waren, oder für die, die von Insulin-Pen oder traditionellen Insulinpumpensystemen auf ein AID-System umsteigen oder für die, die jetzt mit Sport beginnen wollen, bieten die AID-Systeme enorme Vorteile.
Die Leitlinie gibt ihnen konkrete, exakte Empfehlungen für alle kommerziell verfügbaren Systeme. Ich, als Mensch mit Typ-1-Diabetes, möchte keine schwammigen Antworten, sondern klare Lösungen, die noch weiter­führend personalisiert werden müssen. Genau das liefern diese Empfehlungen.

Ich habe auf LinkedIn gesehen, dass Sie auf der Diatec Teil einer inno­vativen Session waren, bei der live gezeigt wurde, wie sich verschiedene Sportarten auf den Blutzucker von Menschen mit Typ-1-Diabetes auswirkt. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Prof. Moser: Ja, das war wirklich etwas Besonderes. Das hat richtig Spaß gemacht! In diesem Seminar haben drei Frauen mit Typ-1-Diabetes live Sport gemacht, während ihre Blutzuckerwerte auf eine Leinwand übertragen wurden. Ich habe die Verläufe kommentiert und erklärt, wie unsere Leitlinie in der Praxis angewendet werden kann.
Es war faszinierend zu sehen, wie gut die Theorie in der Praxis funktioniert. Wir hatten unterschiedliche Ausgangsblutzuckerwerte – von optimal bis sehr hoch – und konnten so zeigen, welche Maßnahmen in verschiedenen Situationen erforderlich sind.
Das Feedback war überwältigend positiv und viele der Teilnehmenden wünschten sich, dass solche Seminare öfters auf einschlägigen Kongressen stattfinden, aber auch auf Veran­stal­tungen für Betroffene, wie dem T1Day. Solch eine praktische Session bietet sich als duale Veranstaltung für den Übergang zwischen einem Fachkongress und den Veranstaltungen für Betroffene an.

Was sehen Sie als die größten Herausforderungen in der Diabetologie in den nächsten 5 bis 10 Jahren?
Prof. Moser: Eine der größten Herausforderungen wird es sein, die Technologie für CGM und AID-Systeme für alle Menschen mit Diabetes zugänglich zu machen.
Die Versicherungsträger sollten überlegen für alle Menschen mit Typ-1-Diabetes AID-Systeme – ohne große Diskussionen – zugänglich zu machen, als auch allen Menschen mit Typ-2-Dia­betes CGM-Systeme zur Verfügung zu stellen.
Es ist entscheidend, dass wir diese Technologien nicht nur entwickeln, sondern auch sicherstellen, dass sie für alle Betroffenen zugänglich und bezahlbar sind. Auf dem T1Day wurde gesagt, die nächsten 10 Jahre gehören der Technologie, und ich bin zuversichtlich, dass wir bedeutende Erfolge sehen werden. Zum Beispiel wird schon 2026 ein vollständiges AID („fully closed loop“) in den Niederlanden auf den Markt kommen.
Zudem hoffe ich, dass wir in der Forschung zur Heilung von Typ-1-Dia­be­tes, etwa durch Stammzelltherapien oder Betazell-Transplantationen, entscheidende Fortschritte machen können.
Dann müssen wir uns in 10 Jahren vielleicht nicht mehr über Typ-1-Diabetes unterhalten. Das würde mich, vor allem, für die vielen betroffenen Kinder und deren Eltern sehr freuen.


Vielen Dank, Herr Professor Moser, für dieses aufschlussreiche Gespräch und den Blick hinter die Kulissen.
Prof. Moser: Sehr gerne. Es war mir eine Freude.

Das Interview führte Birgit Schulze

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