Am 21. Juni war der erste Welt-Prurigo-Tag. Die Online-Veranstaltung wurde u. a. von Prof. Dr. Sonja Ständer moderiert. Lesen Sie unser Interview mit Prof. Dr. Ständer aus der kommenden Printausgabe vorab.
Experten im Gespräch: Interview mit Prof. Dr. Sonja Ständer
Chronischer Pruritus ist das Leitsymptom vieler Erkrankungen, nicht nur der dermatologischen, auch der internistischen. Nicht für alle Formen gibt es eine zugelassene Behandlung. Prof. Dr. med. Dr. h. c. Sonja Ständer, leitende Oberärztin an der Klinik für Hautkrankheiten und Leiterin des interdisziplinären Prurituszentrums des Universitätsklinikums Münster (UKM), geht auf den Stellenwert der frühzeitigen Diagnose und der aktuellen Behandlungsoptionen ein. Die Dermatologin engagiert sich u. a. im Vorstand von SkinHealthCampus e. V.
Bei der hartnäckigen Dermatose Prurigo nodularis sind seit kurzem beispielsweise zwei Antikörper Firstline zugelassen: Dupilumab (IL-4-Rezeptor-alpha-Antagonist) und ganz neu Nemolizumab als IL31-Rezeptorblocker, der auf direktem Weg das Juckreizzytokin unterdrückt.

Pruritus ist eine komplexe Erkrankung. Wann reden wir von einer eigenständigen Erkrankung, wann von einer Komorbidität?
Prof. Dr. Ständer: „Das ist eine spannende Frage, die auf die Besonderheit dieser Empfindung abzielt. Wir kennen Pruritus als ein Symptom von vielen Dermatosen, also beispielsweise Neurodermitis oder trockene Haut, aber auch seltenere Erkrankungen wie bullöse Autoimmunerkrankungen. Hier tritt mit Entstehung der Krankheit, manchmal auch ein bisschen vorher, der Pruritus auf.
Üblicherweise bildet sich der Pruritus mit der Behandlung der Erkrankung zurück. Ist das nicht der Fall, also wenn das Jucken bestehen bleibt, gehen wir davon aus, dass strukturelle und funktionelle Umbauvorgänge im Nervensystem stattgefunden haben und der Pruritus den Charakter einer eigenständigen Erkrankung angenommen hat.“
Wie behandeln Sie diese Patienten?
Prof. Dr. Ständer: „Dies hängt ganz entscheidend von der auslösenden Erkrankung ab. Daher führen wir zunächst eine Diagnostik durch und verschaffen uns Klarheit über Komorbidität, Komedikation und Verlauf des Pruritus.“
Wann sollte dann eine entsprechende tiefergehende Diagnostik durchgeführt werden?
Prof. Dr. Ständer: „Wenn ein anhaltender Pruritus besteht, der nach 6 Wochen nicht abgeklungen ist. Manchmal findet man sehr schnell die auslösende Erkrankung; im einfachsten Fall ist es die trockene Haut. In anderen Fällen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig, um komplexere Erkrankungen zu diagnostizieren.“
Warum ist das Zeitfenster zur Definition einer chronischen Erkrankung mit 6 Wochen so gering? Bei Schmerzpatienten sprechen wir von 3-6 Monaten.
Prof. Dr. Ständer: „Nun, bei der Grunderkrankung kann es sich in seltenen Fällen um ein Lymphom oder eine solide Neoplasie handeln, was frühzeitig ausgeschlossen werden sollte. Hier kann Pruritus als Alarmzeichen verstanden werden und die Erkrankungen, die noch nicht symptomatisch sind, frühzeitig diagnostiziert werden. Deshalb ist es wichtig, das Zeitfenster für eine entsprechende Diagnostik nicht größer zu fassen. Nach 6 Wochen anhaltender Beschwerden sollte die Diagnostik starten.“
Wie therapiert man nach Diagnose? Gleich zu Beginn mit größtmöglicher Effektivität oder in Stufen?
Prof. Dr. Ständer: „Natürlich möchten wir Behandler das effektivste Medikament von Beginn an einsetzen. Allerdings gibt es nicht für jede Form des Pruritus eine zugelassene Therapie. Wenn wir uns aber einmal Krankheiten mit zugelassenen Therapien ansehen wie die chronische Prurigo, auch als Prurigo nodularis bezeichnet, da haben wir mittlerweile mit Dupilumab und Nemolizumab zwei effektive Therapien in Deutschland. Diese können bereits bei gegebener Indikation Firstline eingesetzt werden, weshalb die Leitlinien gerade diesbezüglich überarbeitet werden. Bei anderen chronischen Pruritus- Formen mit unklarer Pathogenese gehen wir stufenweise gemäß der Expertenempfehlungen der Leitlinie vor.“
Wie sieht diese Stufentherapie konkret aus?
Prof. Dr. Ständer: „Die laut Stufentherapie beginnt neben der Diagnostik mit Antistaminika und, wenn das nicht ausreicht, dann geht es weiter mit Substanzen, die die Weiterleitung des Juckens blockieren sollen. Hier gibt es in Anlehnung zur Schmerztherapie Neuropathie-Mitteln oder Antidepressiva. Auch UV-Therapie ist in einigen Fällen noch eine Option, besonderswenn ein Ganzkörperjucken bei älteren Patienten besteht. Hier gibt es Evidenzen, allerdings aus sehr alten Studien.“
Welche multimodalen Ansätze gibt es bei Pruritus?
Prof. Dr. Ständer: „Eine multimodale Therapie ist sehr wichtig, da schwerer chronischer Pruritus mit erhöhtem Stress, sozialem Rückzug, Ängstlichkeit oder Depressivität einhergeht. Um den Patienten den Umgang damit zu erleichtern, bieten wir regelmäßig digitale Patientenschulung an. Da ist jeder willkommen, auch Nicht- Betroffene. Themen sind u. a. der Zusammenhang zwischen Ernährung und Pruritus, Verbesserung der Schlafqualität, Benefit durch Bewegung etc.“
Frau Prof. Dr. Ständer, herzlichen Dank für das Interview!
Über SkinHealthCampus e. V.
SkinHealthCampus e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der es sich zum Ziel gesetzt, hat über den Zusammenhang zwischen Bewegung, Ernährung, Lebensstil, Achtsamkeit und einer gesunden bzw. kranken, juckenden Haut zu informieren. Betroffene finden hier Anregungen und Anleitungen zur Selbstvorsorge oder Selbstfürsorge sowie Hinweise, wie man der Haut vorbeugend Gutes tun kann. Infos unter: https://skinhealthcampus.org/
Das Gespräch führte Elke Engels.
Informationen zum Welt-Prurigo-Tag finden Sie hier: https://www.worldprurigoday.org/de/
Bilderquelle: © UKM


