Auf 144 Seiten hat die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ihren Koalitionsvertrag geschrieben. In der ambulanten Versorgung plant die Koalition eine grundlegende Neustrukturierung in Form eines Primärarztsystems – mit den Dermatologen in der Sekundärversorgung. In der stationären Versorgung soll die Krankenhausreform modifiziert fortgeführt werden.
Der Vertragstext adressiert das Primärarztsystem „bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte in der hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag“. Gynäkologen und Ophthalmologen sollen die einzigen Ausnahmen von der Primärarzt-Regel sein. Die Rolle der Dermatologen wird in der Sekundärversorgung auf Überweisung eines Primärarztes angesiedelt sein.
Das leidige Thema der Facharzt-Termine, auf die im Schnitt sehr lange gewartet werden muss, will die Koalition mit Druck lösen. Primärärzte oder die Kassenärztlichen Vereinigungen sollen die Dringlichkeit festlegen und auch einen Zeitkorridor, innerhalb dessen ein Termin stattfinden muss. Die Koalition will die KVen sogar verpflichten, Termine innerhalb des Zeitfensters beim Facharzt zu garantieren. Wenn das in der ambulanten Versorgung nicht möglich sein sollte, wird die Koalition den Facharztzugang im Krankenhaus ambulant ermöglichen. Krankenhäuser sollen dann stärker für die ambulante Versorgung durch Fachärzte geöffnet werden
Praxis-Patienten-Kontakte werden neue Abrechnungskategorie
Die Honorarregelungen im einheitlichen Bewertungsmaßstab will die Koalition verändern. Mit Jahrespauschalen und einer Flexibilisierung des Quartalsbezugs sollen die Arztkontakte reduziert werden. Zudem sollen Praxis-Patienten-Kontakte die bisherige Abrechnung der Arzt-Patienten-Kontakte ergänzen. Für dermatologische Praxen wird es darauf ankommen, zur Behandlung qualifizierte Physician Assistants bzw. nichtärztliche Praxis-Assistenten für die Abrechnung zusätzlicher EBM-Leistungen zur Verfügung zu haben. Wer das nicht kann oder nicht will, muss sich wohl auf reduzierte Marktanteile einrichten – zumindest in den nicht unterversorgten Regionen ohne Entbudgetierung. In unterversorgten Gebieten sollen fachärztliche Leistungen hingegen entbudgetiert werden. Unterversorgung soll außerdem generell zu Honorarzuschlägen und Überversorgung über 120 % der Bedarfsplanung zu Honorarkürzungen führen können.
Investorenbetriebene Medizinische Versorgungszentren sollen stärker in Bezug auf die Eigentümerstruktur und die korrekte Verwendung der Beitragsgelder kontrolliert werden. Im Bereitschaftsdienst ist geplant, Ärzte von der Sozialversicherung zu befreien.
Änderungen der Krankenhausreform für Land- und Fachkrankenhäuser
Die Krankenhausreform wird in modifizierter Form fortgesetzt. Gesetzliche Änderungen im Rahmen des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes sollen bis zum Sommer umgesetzt werden. Der Spielraum der Bundesländer bei der Grund- und Notfallversorgung auf dem Land soll erweitert werden. Aktuelle Schulden der Krankenhäuser in Höhe von etwa vier Milliarden Euro sowie der GKV-Anteil am Transformationsfonds sollen aus Mitteln des Sondervermögens finanziert werden – also „auf Pump“. Die Finanzierung der Sozialversicherungen bleibt ungelöst; das Problem wachsender Defizite wird in eine Fachkommission geschoben – ein klassisches Dokument der Politikverweigerung in schwierigen Koalitionen.
Die Interessen der Universitätsmedizin und der Fachkrankenhäuser sollen hingegen im Gesetz gestärkt werden. So werden Fachkrankenhäuser nun anders definiert, um mehr von ihnen in der stationären Versorgung halten zu können als von Lauterbach vorgesehen. Das war schon länger eine Forderung der Länder. Die Krankenhausreform soll mit 61 Leistungsgruppen in Anlehnung an den NRW-Krankenhausplan starten. In zwei Phasen soll die Vorhaltefinanzierung ab 2028 eingeführt werden, vorher aber 2027 nochmals überprüft werden. Zahlreiche Dokumentationspflichten und Kontrollen sollen nach dem Koalitionsvertrag durch ein Bürokratieentlastungsgesetz zusammengestrichen werden. Statt Kontrollen wird die Koalition mehr auf Vertrauen und Eigenverantwortung setzen. In der ambulanten Medizin wird eine Bagatellgrenze von 300 Euro für Regressprüfungen eingeführt.

Chancen für einen Neustart?
Nach der Einigung der Parteispitzen von CDU, CSU und SPD auf einen Koalitionsvertrag sehen die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft Chancen für einen Neustart. Neben Lob gibt es aber auch Kritik an Punkten des Vertrags. Aus der Sicht der KBV besteht die Möglichkeit eines Neuanfangs in der Gesundheitspolitik. Der KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Gassen zeigt sich erfreut über den Wechsel des Gesundheitsressorts zur Union.
„Fehlentwicklungen der letzten Jahre
müssen jetzt korrigiert werden.“
Die KBV verbindet mit den Korrekturen vor allem die Stärkung der ambulanten Versorgung, die ein wesentlicher Stabilitätsfaktor in Deutschland sei. Besonderes Augenmerk richtet die Selbstverwaltung auf die Finanzierung und Organisation des Patientenservice 116117. Die angedachten Honorarabzüge bei Fachärzten in überversorgten Regionen lehnt Gassen ab. So gut es sei, über die Entbudgetierung von fachärztlich unterversorgten Regionen nachzudenken, so kritisch sehe man Honorarabzugsideen in überversorgten Regionen, die es de facto nicht gebe und die eher ein Produkt der Bedarfsplanung seien.
„Wir sind sicher, dass mit einem neuen Minister
wieder ein konstruktiver Dialog zwischen Bund, Ländern
und den Akteuren im Gesundheitswesen möglich sein wird.“
Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) bewertet den Koalitionsvertrag als Chance für einen Neustart in der Gesundheitspolitik. Die neue Bundesregierung stehe vor großen Herausforderungen. „Wir sind sicher, dass mit einem neuen Minister wieder ein konstruktiver Dialog zwischen Bund, Ländern und den Akteuren im Gesundheitswesen möglich sein wird. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die allerdings in den zurückliegenden Jahren aus dem BMG heraus bewusst missachtet wurde. Wir sehen einem Personal- und Politikwechsel mit großer Zuversicht entgegen, obgleich die Herausforderungen, denen die Krankenhäuser gegenüberstehen, damit noch nicht kleiner geworden sind“, erklärt der Vorstandsvorsitzende der DKG, Dr. Gerald Gaß.
Positiv ist aus DKG-Sicht, dass die dringend notwendigen Mittel zur Deckung der Lücke aus den Jahren 2022 und 2023, die benötigt werden, um die Strukturen zur Gestaltung einer planvollen neuen Krankenhauslandschaft stabilisieren zu können, auch in der Endfassung des Koalitionsvertrages enthalten sind. „Zwar handelt es sich dabei bedauerlicherweise nur um eine einmalige Zahlung und nicht um eine strukturelle Hilfe – dennoch zeigt sie, dass sich die Koalition der wirtschaftlich dramatischen Lage vieler Kliniken bewusst ist“, so Dr. Gaß. Die Auszahlung dieser Sofort-Transformationskosten müsse allerdings schnell und möglichst noch im ersten Halbjahr 2025 erfolgen.
BÄK lobt Arbeitsprogramm für die Reformbaustellen
Aus der Sicht der Bundesärztekammer enthält der Koalitionsvertrag ein Arbeitsprogramm für die Reformbaustellen im Gesundheitssystem. Ein Primärarztsystem, mehr Prävention, eine Reform der Notfallversorgung, eine Entbürokratisierung der Prozesse sowie eine modifizierte Fortführung der Krankenhausreform seien relevante gesundheitspolitische Ansätze zur Reform des Gesundheitssystems. Positive Projekte für die Fachärzte könnten die Entbudgetierung in unterversorgten Gebieten und die Einführung von Bagatellgrenzen bei Regressen werden, falls es nicht bei Ankündigungen der Politik bleibe.
Ein Manko des Koalitionsvertrags sei die fachgruppenbezogene Definition des Primärarztes. Während Hausärzte, Kinderärzte, Ophthalmologen und Gynäkologen dieses Gütesiegel erhielten, blieben Dermatologen, Urologen, Psychotherapeuten und andere Facharztgruppen außen vor.

Franz-Günter Runkel
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