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Gendermedizin: Kardiologisch relevante Unterschiede zwischen Frau und Mann

Silhouetten von Männern und Frauen

Gendermedizin: Kardiologisch relevante Unterschiede zwischen Frau und Mann

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Rund zwei Jahrzehnte ist es her, seit medizinisch relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den Fokus gerückt sind. Zwar hat sich die Genderforschung inzwischen etabliert, trotzdem mangelt es immer noch an harten Daten. Immer noch gibt es kaum geschlechter­differenzierte Leitlinienempfehlungen. Immer noch werden geschlechterspezifische Unterschiede im Versorgungsalltag kaum berücksichtigt. Im Interview erläutert Prof. Andrea Bäßler, worauf Ärzt:innen bei der Behandlung von Frauen mit kardiovaskulären Erkrankungen achten sollten.

Frau Professorin Bäßler, wie würden Sie den aktuellen Stand mit Blick auf kardiologisch ­relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern umreißen? Gibt es ein tragfähiges ­Evidenzfundament, oder sprechen wir eher von Erfahrungswerten und Trends?
Bäßler:
Das ist von Thema zu Thema unterschiedlich. Es hat sich in den letzten Jahren einiges getan, aber immer noch sind Frauen in klinischen Studien unterrepräsentiert. Angesichts der aktuellen Evidenzlage gibt es erst wenige kardiologische Leitlinien, die geschlechterdifferenzierte Empfehlungen aussprechen. Das dürfte sich aber zunehmend ändern. So wurde im letzten Jahr eine Leitlinie zum Koronarsyndrom veröffentlicht, in der auch geschlechterspezifische Unterschiede thematisiert werden.

Worum geht es da konkret?
Es geht dabei in erster Linie um Unterschiede in der Ätiopathogenese von Koronarsyndromen. Das klassische Koronarsyndrom ist auf fluss­limitierende Stenosen im Bereich der großen Herzkranzgefäße zurückzuführen. Bei Männern steht diese obstruktive KHK im Vordergrund. Bei Frauen mit Angina-pectoris-Beschwerden sieht man dagegen im Koronarangiogramm häufiger als bei Männern unauffällige Herzkranz­gefäße – ohne kritische Stenose. Anderseits erkennt das geübte Auge bei vielen dieser Frauen Veränderungen im Bereich der kleinen Koronarien, die auf eine mikrovaskuläre Dysfunktion schließen lassen. Und es gibt eine zweite Form der nicht obstruktiven KHK, die sich ebenfalls bei Frauen häufiger findet als bei Männern: die vasospastische Form.

Wie geht man mit diesen verschiedenen 
KHK-Formen um?
Ganz wichtig ist, dass man Frauen, die über Angina pectoris berichten, ohne dass das Koronar­angiogramm im Bereich der großen Koronarien auffällige Verengungen zeigt, ernst nimmt und ihre Beschwerden nicht einfach abtut. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei den betroffenen Frauen eine mikrovaskuläre Dysfunktion oder eine ­vasospastische Angina vorliegt, ist hoch. Die Risikomodifikation und die medikamentösen Therapieoptionen bei obstruktiver bzw. nicht-obstruktiver KHK sind ähnlich: Verbesserung der Endothelfunktion mit Statinen, ACE-Hemmern, Angiotensin-II-Rezeptor-Blockern, außerdem Beta-Blocker und Calcium-Antagonisten. Bei Verdacht auf eine vasospastische Angina bieten sich Calcium-Antagonisten und langwirksame Nitrate an. In jedem Fall ist eine konsequente Behandlung angezeigt.

Das wohl bekannteste Beispiel für geschlechterspezifische Unterschiede im Bereich der Kardiologie ist der Myokardinfarkt. Worin ­bestehen die Unterschiede?

er akute Myokardinfarkt kann sich bei Frauen und Männern mit unterschiedlicher Symptomatik bemerkbar machen. Der Myokardinfarkt beim Mann geht gewöhnlich mit bedrohlicher Brustenge und starken Schmerzen im Brustkorb einher. Zwar berichten auch viele Frauen über Brustschmerzen, die klassischen Infarktsymptome sind jedoch bei Frauen häufiger als bei Männern geringer ausgeprägt oder fehlen sogar ganz. Die Symptome des weiblichen Herzinfarkts sind oft unspezifisch und können leicht fehlinterpretiert werden. Häufige Symptome des weiblichen Herzinfarkts sind Atemnot, Müdigkeit, eingeschränkte Belastbarkeit sowie Schmerzen im Oberbauch verbunden mit Übelkeit und Erbrechen. Diese Symptome können auch im Vorfeld des akuten Myokardinfarkts – Wochen bis Monate vorher – auftreten. Sehr oft werden hinter den letztgenannten Symptomen gastrointestinale Erkrankungen vermutet und abgeklärt. Dadurch kann wertvolle Zeit verloren gehen.

Inwieweit haben Verzögerungen bei der Diagnosestellung akuter Koronarsyndrome Auswirkungen auf das Outcome der Patientinnen?

Das Outcome von Frauen nach akutem Myokardinfarkt ist schlechter als das von Männern, das ist gut dokumentiert. Komplikationsrate und Sterblichkeit sind bei Frauen im Vergleich zu Männern höher. Die unspezifische und vielfältige Symptomatik dürfte dabei eine maßgebliche Rolle spielen. Hinzu kommt, dass der Herzinfarkt lange Zeit als vorrangige Krankheit des Mannes galt. Diese Denke ist auch heute noch nicht ganz verschwunden. Das heißt, bei Frauen wird nicht so schnell ein Herzinfarkt vermutet. Und ein weiterer Aspekt ist mit Blick auf das schlechtere Outcome von Frauen nach Herzinfarkt relevant: Bei beiden Geschlechtern steigt die Infarktrate mit dem Alter an. Frauen sind im Mittel acht bis zehn Jahre älter als Männer, wenn sie einen Infarkt erleiden. Mit Nachlassen der Östrogenproduktion in der Menopause kommt es bei ihnen zu einem steilen Anstieg der Infarktinzidenz. Viele Frauen sind also infolge des höheren Alters zum Zeitpunkt des Infarkts älter und weisen infolgedessen im Mittel mehr Komorbiditäten auf als Männer. Auch das trägt zur schlechteren Prognose von Frauen bei.

Welche Unter­schiede gibt es mit Blick auf die chronische Herz­insuffizienz?

Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Männer häufiger eine systolische Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion – kurz HFrEF – entwickeln, bei der die Pumpkraft des Herzens vermindert ist. Frauen dagegen leiden häufiger an einer diastolischen Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion, kurz HFpEF. Bei dieser Form ist die Erschlaffung des Herzmuskels beeinträchtigt, oft auf dem Boden der erwähnten mikrovaskulären Dysfunktion. Die Symptomatik ist bei HFrEF und HFpEF ähnlich. Einen großen Fortschritt hat die Einführung der SGLT2-Inhibitoren gebracht. Für diese Medikamentenklasse ist erstmals nachgewiesen worden, dass sie die Prognose auch bei chronischer Herzinsuffizienz mit erhaltener Pumpfunktion verbessern. SGLT2- Inhibitoren sind sowohl bei HFrEF als auch bei HFpEF wirksam.

Stichwort „kardiovaskuläre Risikofaktoren“: Auch in dieser Hinsicht gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern …

Ja, das ist richtig. Zwei Aspekte sind wichtig: Zum einen schlagen die klassischen Risikofaktoren bei Frauen stärker zu Buche als bei Männern. Und zum anderen gibt es frauen- und männerspezifische Risikofaktoren. Frauen sind durch klassische Risikofaktoren stärker gefährdet als Männer. Das gilt für Bluthochdruck, Diabetes, Adipositas und Rauchen. Frauen mit einem Blutdruck von z. B. 150/95 mmHg haben also ein höheres kardiovaskuläres Risiko als Männer mit denselben Werten. Ein Typ-2-Diabetes erhöht das kardiovaskuläre Risiko bei Männern um den Faktor 3, bei Frauen dagegen um den Faktor 5. Und auch regelmäßiger Zigarettenkonsum ist für Frauenherzen noch gefährlicher als für ­Männerherzen.

Gelten bei Männern und Frauen vor diesem Hintergrund für die Einstellung des Blutdrucks bzw. des Diabetes andere Zielwerte?

Nein, dazu gibt es im Moment keine ausreichende Evidenz und daher auch keine geschlechterspezifischen Leitlinienempfehlungen. Festzuhalten ist, dass man das unterschiedliche Gewicht der klassischen Risikofaktoren bei der Abschätzung des individuellen Gesamtrisikos und der Therapieplanung im Hinterkopf haben sollte.

Und was sind frauenspezifische kardiovasku­läre Risikofaktoren?

Frauenspezifische kardiovaskuläre Risikofaktoren umfassen hormonelle und reproduktive Aspekte. Ein absinkender Östrogenspiegel in der Menopause begünstigt atherosklerotische Erkrankungen. Zudem steigt bei postmenopausalen Frauen die Anfälligkeit für das Tako-Tsubo-Syndrom, und ein früher Menopauseeintritt (< 45 Jahre) erhöht das kardiovaskuläre Risiko zusätzlich. Auch abnormale Menarche-Zeiten (früh < 12 bzw. spät > 17 Jahre) und Erkrankungen wie Endometriose spielen eine Rolle. Das Polyzystische Ovarialsyndrom wird mit einem ungünstigen Risikoprofil (z. B. Diabetes, Hypertonie, Adipositas) assoziiert. Schließlich beeinflussen Schwangerschafts-assoziierte Komplikationen wie Gestationsdiabetes, Gestationshypertonie, Präeklampsie und peripartale Kardiomyopathie das langfristige kardiovaskuläre Risiko.

Für die Praxis relevant sind schließlich geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik. Was ist hier zu beachten?

Bei diversen in der Kardiologie angewendeten Medikamenten wurden Unterschiede hinsichtlich der therapeutischen Wirksamkeit und auch hinsichtlich unerwünschter Wirkungen beschrieben. Es ist ein Trend zu erkennen, dass bei Frauen oft eine niedrigere Dosierung ausreichen kann. Geschlechterspezifische Dosierempfehlungen für einzelne Medikamente gibt es bislang nicht, da die entsprechende Datenlage hierzu fehlt. Aber es kann – z. B. bei Statinen – sinnvoll sein, bei Frauen mit einer niedrigen Dosis ein-
zusteigen und sich dann an die individuell optimale Dosis heranzutasten. Nebenwirkungen treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern, das ist ebenfalls eine Beobachtung, die wir im klinischen Alltag bei unterschiedlichen Medikamenten machen. Zum Beispiel berichten Frauen unter Statinen häufiger über Nebenwirkungen als Männer. Das ist vor allem mit Blick auf statininduzierte Myopathien durch Studien gut dokumentiert. Solche Unterschiede in der Verträglichkeit können auf Geschlechterunterschieden hinsichtlich Pharmakodynamik und Pharmakokinetik basieren, aber auch andere – z. B. psychologische – Aspekte können eine Rolle spielen. Männer sind eher auf den therapeutischen Benefit fokussiert. Frauen dagegen beschäftigen sich oft stärker als Männer mit möglichen Nebenwirkungen und sind in dieser Hinsicht deutlich sensitiver. Man sollte niemals alle Frauen bzw. alle Männer über einen Kamm scheren, aber solche geschlechterspezifischen Unterschiede in der Herangehensweise gibt es definitiv, und diese sollte man im Blick haben.

Wie sollte man damit umgehen?

Wichtig erscheint mir eine entsprechende Aufklärung der Patient:innen. Gerade Frauen sollten über mögliche Nebenwirkungen besonders gut informiert sein und sie sollten wissen, dass es Optionen gibt, wie man Nebenwirkungen managen bzw. reduzieren kann, sei es durch Dosisanpassung oder durch einen Wechsel des Medikaments. Wichtig ist, dass die Patient:innen ihre Medikamente nicht eigenmächtig absetzen, sondern den Arzt informieren. Das Thema Adhärenz sollte explizit angesprochen werden.

Wie sieht Ihr abschließendes Fazit aus?

Das Bewusstsein für geschlechterspezifische Aspekte in Kliniken und bei niedergelassenen Ärzt:innen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aber es bleibt noch viel zu tun, was
geschlechterspezifische Forschung und den Transfer in die Praxis angeht. Wir benötigen eine bessere Datenlage in Studien, in denen Frauen adäquat repräsentiert sind. Nur so können medizinisch relevante Unterschiede zwischen Mann und Frau detektiert bzw. konkretisiert und die Leitlinienempfehlungen entsprechend optimiert werden. Auch eine gezielte Aus-, Fort- und Weiterbildung hinsichtlich geschlechtersensibler Themen im Studium, der Facharztqualifikation und auch in der Pflege wäre wünschenswert, um die Versorgungsqualität von Frauen – und auch von Männern – zu verbessern.

Interview: Ulrike Viegener

Expertin: Prof. Dr. med. ­Andrea Bäßler,
Leiterin der kardiologischen Hochschulambulanz der Klinik und Poli­klinik für Innere Medizin II des Universitären Herzzentrums am Universitätsklinikum Regensburg
Mitglied der Arbeits­gruppe „Gendermedizin in der Kardiologie“
Gleichstellungsbeauf­tragte für Wissenschaft sowie Mitglied der Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der Universität Regensburg

Bildquelle:© michalsanca – stock.adobe.com

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