Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist eine komplexe chronische Schmerzerkrankung, die durch weit verbreitete Schmerzen, erhöhte Schmerzempfindlichkeit und zahlreiche Begleitsymptome gekennzeichnet ist. Mit einer Prävalenz von 2-4% in der Allgemeinbevölkerung, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind als Männer, stellt das FMS eine bedeutende gesundheitliche Herausforderung dar.
Neue Erkenntnisse zur Pathophysiologie
Die Pathophysiologie des FMS wird heute als multifaktorielles Geschehen verstanden. Während die zentrale Sensibilisierung mit Veränderungen in schmerzverarbeitenden Hirnregionen weiterhin als Kernmechanismus gilt, gewinnen periphere Faktoren zunehmend an Bedeutung. Aktuelle Forschungsergebnisse des William Harvey Research Institute haben gezeigt, dass das Immunsystem eine entscheidende Rolle bei der Entstehung chronischer Schmerzen bei FMS spielt. Neutrophile Granulozyten infiltrieren die sensorischen Ganglien und verursachen dadurch anhaltende Schmerzen. Bei einigen Patienten wurden zudem schmerzauslösende Autoantikörper identifiziert, die auf eine mögliche autoimmune Komponente hindeuten. Diese neuen Erkenntnisse eröffnen vielversprechende Perspektiven für zukünftige Therapieansätze.
Symptomatik im fortgeschrittenen Stadium
Obwohl das FMS nicht zu irreversiblen Organschäden oder einer verkürzten Lebenserwartung führt, kann die Symptomatik im fortgeschrittenen Stadium die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Charakteristisch sind intensivierte, oft permanente Schmerzen, die als brennend, ziehend oder stechend beschrieben werden. Hinzu kommen eine ausgeprägte Fatigue mit deutlicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit, schwere Schlafstörungen mit fehlendem Tiefschlaf und kognitive Beeinträchtigungen („Fibro-Fog“). Viele Patienten leiden zudem unter Morgensteifigkeit, Bewegungseinschränkungen und psychischen Komorbiditäten wie Depressionen und Angststörungen. Diese Symptomkonstellation führt häufig zu erheblichen funktionellen Einschränkungen im Alltags- und Berufsleben.
Moderne diagnostische Ansätze
Die Diagnose des FMS erfolgt primär klinisch anhand charakteristischer Symptome und dem Ausschluss anderer Erkrankungen. Die aktuellen diagnostischen Kriterien basieren auf den 2016 revidierten Kriterien des American College of Rheumatology und den Empfehlungen der deutschen S3-Leitlinie. Innovative Forschungsansätze zielen darauf ab, objektive Biomarker zu identifizieren, darunter funktionelle Bildgebung, quantitative sensorische Testung, spezifische microRNA-Profile im Blut und Hautbiopsien zur Beurteilung der intraepidermalen Nervenfaserdichte. Diese Methoden könnten zukünftig die diagnostische Sicherheit erhöhen und die Identifikation von FMS-Subgruppen ermöglichen.
Multimodale Therapiestrategien
Die Behandlung des FMS, besonders im fortgeschrittenen Stadium, erfordert einen individualisierten, multimodalen Ansatz. Die medikamentöse Therapie umfasst Antidepressiva wie Amitriptylin, Duloxetin und Milnacipran, Antikonvulsiva wie Pregabalin und Gabapentin sowie in ausgewählten Fällen Analgetika. Neuere Therapieoptionen wie niedrig dosiertes Naltrexon und Cannabinoide zeigen bei manchen Patienten positive Effekte.
Das Fundament der Behandlung bilden jedoch nicht-medikamentöse Therapien. Regelmäßige körperliche Aktivität in Form von aerobem Training, Krafttraining und Wassergymnastik hat sich als besonders wirksam erwiesen. Psychotherapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie, achtsamkeitsbasierte Stressreduktion und Akzeptanz- und Commitment-Therapie unterstützen die Schmerzbewältigung und verbessern die Lebensqualität. Physikalische Therapien wie Wärme- und Kälteanwendungen, TENS und Akupunktur können ergänzend eingesetzt werden.
Innovative Behandlungsansätze und Ausblick
Die Forschung zu neuen Therapieansätzen beim FMS schreitet kontinuierlich voran. Vielversprechend sind nicht-invasive Hirnstimulationsverfahren wie die transkranielle Magnetstimulation und die transkranielle Gleichstromstimulation, die die veränderte Schmerzverarbeitung im Gehirn modulieren können. Der Exopulse Mollii Suit, ein Neuromodulationsanzug zur transkutanen elektrischen Nervenstimulation, hat in aktuellen Studien signifikante Verbesserungen bei Schmerzen, Müdigkeit und Angst gezeigt.
Immunmodulatorische Therapien, die auf die neu entdeckte immunologische Komponente des FMS abzielen, könnten zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Personalisierte Therapieansätze, die genetische, immunologische und psychosoziale Faktoren berücksichtigen, werden zunehmend erforscht und könnten die Behandlungsergebnisse verbessern.
Trotz der Komplexität der Erkrankung und der Herausforderungen im fortgeschrittenen Stadium bieten die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und therapeutischen Innovationen Grund zur Hoffnung für FMS-Patienten. Ein frühzeitiger Therapiebeginn, eine kontinuierliche, patientenzentrierte Betreuung und die Kombination verschiedener Behandlungsmodalitäten können die Symptombelastung reduzieren und die Lebensqualität deutlich verbessern.
Quellenverzeichnis
Winkelmann A. Fibromyalgiesyndrom – Update 2024: Aktuelle Diagnostik und Therapie der komplexen Schmerzerkrankung. Orthop Rheuma. 2024;27:40-52.
William Harvey Research Institute. „An immunological basis of chronic widespread pain in fibromyalgia.“ Queen Mary University of London, 2023.
Ayache SS, et al. Exopulse Mollii Suit zur transkutanen elektrischen Nervenstimulation bei Fibromyalgie. Ottobock Healthcare Products GmbH, 2024.
AWMF. S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie, 2017.
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Häuser W, et al. Fibromyalgiesyndrom – Aktualisierte Leitlinie 2017 und Übersicht von systematischen Übersichtsarbeiten. Schmerz. 2017;31(3):231-8.
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