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Prellungen und Bluthochdruck bei Hochbetagten

Prellungen und Bluthochdruck bei Hochbetagten

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mgo medizin

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8 MIN

Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Die Komplexität multipler Erkrankungen und mögliche Interaktionen der verordneten Medikationen betagter Patienten stellen Hausärzte vor besondere Herausforderungen. Anhand eines Fallbeispiels zeigen die Autoren die Vorgehensweise mit Hilfe der sogenannten Ariadne-Prinzipien.

Obwohl Multimorbidität und Multimedikation in der hausärztlichen Praxis weit verbreitet sind und bis zur 80 % der hausärztlichen Konsultationen Patient*innen mit Multimorbidität betreffen [1], fühlen sich Hausärzte häufig mit der Versorgung dieser Patientengruppe
überfordert [2]. Die Komplexität von multiplen Erkrankungen und pharmakologischen Verordnungen, die miteinander interagieren können,
die Ungewissheit bei mangelnder Evidenz und inadäquaten Leitlinienempfehlungen für mehrfacherkrankte Patienten sowie eine häufig unkoordinierte Versorgung erschweren die Entscheidungsfindung.

Für hausärztliche Konsultationen mit diesen Patienten wurden daher die sogenannten Ariadene-Behandlungsprinzipien als aide memoire entwickelt. Ariadne, die Tochter des kretischen Königs Minos, half Theseus mit Schwert und Wollknäuel, um den schrecklichen Minotaurus zu besiegen und anschließend den Ausgang des Labyrinths zu finden.

Im Mittelpunkt der Ariadne-Prinzipien steht die Vereinbarung realistischer Therapieziele zwischen Hausarzt und Patient, welche die Grundlage für die individualisierte Versorgung bilden. Dies folgt einer Interaktionsbewertung, in der mögliche Zusammenhänge zwischen den Gesundheitsproblemen des Patienten, seinen Therapien, seiner körperlichen und seelischen Verfassung und seinem Lebensumfeld beurteilt wurden, sowie einer Priorisierung von Gesundheitsproblemen und Präferenzen für oder gegen Behandlungen des Patienten (vgl. Abb. 1, S. 28).[3]

Diese Artikelserie verfolgt das Ziel, kognitive Entscheidungsstrategien in ausgewählten Fällen aus der Praxis anhand der Ariadne-Prinzipien unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Evidenz zu diskutieren.

Fallbericht: Elise S., 86 Jahre

Die Patientin stellt sich erstmals an einem Montag in unserer Praxis vor. Sie sei am Samstag morgens im Krankenhaus aufgrund multipler Prellungen, die sie sich im Rahmen eines Sturzes im häuslichen Umfeld zugezogen habe (Stolperfalle Teppichkante), behandelt worden. Ihr bisheriger Hausarzt sei in den Ruhestand getreten und sie suche nun eine neue Praxis, in der sie hausärztlich betreut werden könne.

In der Vorgeschichte der Patientin ist ein arterieller Hypertonus bekannt, den sie bisher mit Ramipril 5 mg behandelt habe. Die Blutdruckwerte seien im Bereich 140–150 mmHg systolisch und 80–90 mmHg diastolisch bei den Messungen zuhause und auch in der Arztpraxis gewesen. Damit habe sie sich sehr wohl gefühlt. Außer dem Ramipril nehme sie noch ASS 100 mg tgl. ein – warum, wisse sie nicht.

Der Krankenhausentlassbrief enthielt folgende Informationen:

Diagnosen:

  • Multiple Prellungen bei Zustand nach Sturz (Becken, re. Hüfte)
  • Ausschluss Fraktur Becken/re. Hüftgelenk
  • Art. Hypertonie – Intensivierung der anti – hypertensiven Therapie (RR hier um 175/90 mmHg) Einleitung einer Schmerztherapie

Therapieempfehlungen:

  • Ramipril 5 mg 1 – 0 – 1 (Dosis verdoppelt)
  • Amlodipin 5 mg: 1 – 0 – 1 (neu)
  • Diclofenac 75 mg: 1 – 0 – 1 (neu)
  • Novaminsulfon 500 mg bei Bedarf, maximal 8 Tbl./d
  • Bei Beschwerdepersistenz CT / MRT Becken empfohlen
  • Verordnung Physiotherapie

Bei der Untersuchung der sehr differenzierten, geschwächt wirkenden Patientin in reduziertem Allgemeinzustand imponierte ein Blutdruck von 105/77 mmHg (re.) bzw. 110/80 mmHg (li.), die Auskultation von Herz und Lunge war unauffällig. Es zeigte sich eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung des re. Oberschenkels im Hüftgelenk sowie ein Hämatom ebendort. Weitere Auffälligkeiten fanden sich nicht.

Die Patientin gab an, das Diclofenac nur einmal genommen zu haben und es dann wegen Schmerzen im Oberbauch und leichter Übelkeit weggelassen zu haben. Von dem Novaminsulfon habe sie in den letzten beiden Tagen je acht Tbl. genommen und heute vier. Die Beschwerden im Oberbauch seien dann nicht mehr aufgetreten. Das Amlodipin und das Ramipril habe sie nach den Empfehlungen der Klinik eingenommen. Ihre Schwäche führte sie auf die Folgen des Sturzes zurück – sie sei auch sehr müde.

Mit der Patientin wurde besprochen, dass Schmerzen zu einer Erhöhung des Blutdrucks, die Einnahme von Novaminsulfon zu dessen Erniedrigung und eine durch Blutverlust verursachte Anämie zu Müdigkeit führen können. Gemeinsam entschieden wir, eine Blutbildanalyse zum Ausschluss einer Anämie durchzuführen, mit dem neu angesetzten Amlodipin, dem ASS und der abendlichen Gabe des Ramiprils zu pausieren und das Novaminsulfon wie empfohlen einzunehmen.

Bei der Befundkontrolle nach zwei Tagen zeigte sich die Patientin in einem deutlich gebesserten Allgemeinzustand, der Blutdruck war bei 130/80 mmHg. Das Blutbild hatte keine Auffälligkeiten ergeben und die Schmerzen seien rückläufig, am Vortag habe sie nur fünf Tabletten Novaminsulfon genommen.

Bei einer weiteren Kontrolle nach einer Woche hatte sie die Schmerzmittel komplett abgesetzt und der Blutdruck lag bei Werten um 140–150 mmHg systolisch und 80–90 mmHg diastolisch – wie zuvor auch.

Sie fühle sich wieder „wie zuvor“ – auf eine weitergehende Diagnostik wurde verzichtet, ebenso wie auf die Wiederaufnahme der ASS 100-Einnahme.

Hausärztliche Reflektion des Vorgehens bei Elise S.

Nach der Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung besprach ich mit Elise S. das weitere Procedere. Da die Blutdruckwerte
in der Klinik direkt nach der Aufnahme in der Ambulanz gemessen wurden, also in einer Phase, in der die Patientin noch starke Schmerzen beklagte, kann daraus noch keine Entgleisung abgeleitet werden [1]. Möglicherweise war das Ziel der behandelnden Kollegen, die hochbetagte Patientin auf Blutdruckzielwerte von 130/80 mmHg einzustellen [4], was aber in ihrer Situation nicht erstrebenswert ist.

Die Entscheidung von Elise S., das Diclofenac aufgrund der Oberbauch-Beschwerden nach einmaliger Einnahme abzusetzen, bekräftigte ich, zumal dieses Präparat den Blutdruck erhöhen könne und bei gleichzeitiger Einnahme mit ASS zu einem erhöhten Blutungsrisiko führt. Außerdem sei sie mit dem Novaminsulfon bezüglich ihrer Schmerzen gut eingestellt – hier sollte allerdings an die blutdrucksenkende Wirkung gedacht werden.

Also entschieden wir gemeinsam, die in der Klinik empfohlene Eskalation der Blutdrucktherapie zu pausieren, das Diclofenac wegzulassen und die Analgesie mit Novaminsulfon gemäß den Klinikempfehlungen fortzuführen.

Außerdem wurde eine Blutbilduntersuchung durchgeführt, um eine Anämie, bedingt durch die ausgeprägten Hämatome, als Erklärung für die Müdigkeit und schlimmstenfalls für den niedrigen Blutdruckwert, den ich bei dieser Konsultation gemessen hatte, auszuschließen. (Am Abend konnte ich der Patientin mitteilen, dass das Blutbild keine auffälligen Befunde ergeben habe.)

Bei der Befundkontrolle nach zwei Tagen berichtete die Patientin, dass sie vor zwei Tagen insgesamt acht Tabletten Novaminsulfon, am Vortag nur noch fünf eingenommen habe und darunter fast schmerzfrei sei. Insgesamt fühle sie sich nicht mehr so müde und es ginge ihr deutlich besser. Sie hatte auch ihre alte Krankenakte mitgebracht. Diese enthielt keinen Hinweis, warum die Einnahme von ASS bei ihr sinnvoll wäre.

Klinisch zeigte sich die Patientin in einem deutlich gebesserten Allgemeinzustand, die Blutdruckkontrolle in der Praxis zeigte einen Wert von 130/80 mmHg. Wir besprachen eine Fortführung der Therapie unter Anpassung der Analgesie. Da sich keine eindeutige Indikation für das ASS ergab, wurde dieses abgesetzt.

Bei einer weiteren Kontrolle nach einer Woche hatte sie die Schmerzmittel komplett abgesetzt und der Blutdruck lag bei Werten um 140–150 mmHg systolisch und 80–90 mmHg diastolisch. Sie fühle sich wieder „wie zuvor“. Die Laborkontrolle des Diff.-Blutbildes, der Leberwerte, Krea, GFR, Natrium und Kalium waren unauffällig.

Deshalb wurde die weitere Therapie ausschließlich mit Ramipril 5 mg morgens fortgeführt. Hierunter zeigten sich Werte bis maximal systolisch 160 mmHg und diastolisch 90 mmHg und die Patientin fühlte sich in ihrer Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt.

Diskussion der hausärztlichen Entscheidungsfindung

Interaktionsbewertung

Sturzereignisse, wie bei Elise S. initial durch eine (altersbedingte?) Ungeschicklichkeit ausgelöst, stehen im Risiko, sich zu wiederholen [5], dann ggf. mit schweren Folgen bis hin zu Heimunterbringung und Autonomieverlust und werden häufig medikamentös ausgelöst [6].

Blutdruckzielwerte von 130/80 mmHg bewirken wegen der hohen individuellen Schwankungsbreite, dass in einer relevanten Anzahl der Blutdruckmessungen deutlich niedrigere Werte auftreten [7], die das Risiko für weitere Stürze erhöhen und bei Hochaltrigen mit kognitiver Dysfunktion einhergehen können [7].

Die Einnahme von ASS (zumal, wenn nicht oder nicht mehr indiziert) allein oder in Kombination mit Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), wie Diclofenac erhöhen das (gastrointestinale) Blutungsrisiko. Eine Schmerztherapie ist zur Vermeidung schmerzbedingter Inaktivität ggf. indiziert, zugleich sind Interaktionen zur Blutdrucktherapie zu berücksichtigen (NSAR führt zum Wirkverlust von ACE-Hemmern und Blutdruckanstieg, Novaminsulfon hat potenziell blutdrucksenkende Effekte).

Patientenpräferenzen / Priorisierung

Die Schmerzlinderung steht bei Elise S. im Vordergrund, ebenso die Vermeidung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW, hier Oberbauchbeschwerden unter Diclofenac). Zudem leidet sie unter Müdigkeit – da im Blutbild keine relevante Anämie nachgewiesen wurde, ist diese am ehesten Folge des für Elise S. niedrigen Blutdrucks und/oder der Einnahme von Novaminsulfon.

Individualisierte Therapie

In Einklang mit den Therapiezielen von Elise S. wurde die Analgesie priorisiert, die Auswahl des Analgetikums ist jedoch nicht trivial. Da NSAR wegen Blutungsrisiko, UAW und Interaktion mit ACE-Hemmern ungeeignet sind (und von Elise S. abgelehnt werden), zentral wirksame Analgetika wiederum das Sturzrisiko erhöhen, wurde Novaminsulfon fortgeführt und damit das Risiko für blutdrucksenkende Effekte ebenso in Kauf genommen wie das im Alter erhöhte Risiko für eine Agranulozytose – diese Risiken scheinen bei temporärer Einnahme vertretbar. Die Blutdrucktherapie folgt dem kardiovaskulären Gesamtrisiko und der (begrenzten) Lebenserwartung von Elise S., d.h. eine Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse bei der 86-Jährigen stellt ein untergeordnetes Therapieziel dar. Blutdruckwerte von zuletzt 160/90 mmHG werden daher in den Follow-up-Kontrollen akzeptiert zugunsten der kognitiven Funktionalität.

Conclusio

Die hier dargestellte Kasuistik zeigt uns, wie wichtig es ist, die Entlassmedikation kritisch und partizipativ zu betrachten. Dies betrifft insbesondere – aber nicht nur – unsere multimorbiden und hochbetagten Patientinnen und Patienten.

In diesem Fall konnten wir durch eine Reduktion der Medikation einen Beitrag zum Wohle der Patientin leisten. Sozusagen als „Nebeneffekt“
trägt diese Reduktion auch noch zum Schutz unseres Klimas bei.

Autoren: Dr. med. Armin Wunder, Prof. Dr. Marjan van den Akker, Prof. Dr. Christiane Muth

Quelle: Allgemeinarzt Digital

Abb.: oneinchpunch_adobe.stock.com

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