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Tinnitus: Kleines 1×1 für die ­Hausarztpraxis

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Tinnitus: Kleines 1×1 für die ­Hausarztpraxis

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Tinnitus ist keineswegs selten – etwa 10 % der Bevölkerung sind im Laufe ihres Lebens davon betroffen. In Teil 1 der Miniserie geht es um die Ätiopathogenese­ ­sowie um die Therapie des akuten Tinnitus am Beispiel eines typischen Falls.

Tinnitus ist definitionsgemäß eine Geräuschwahrnehmung (sog. Ohrgeräusch), der keine äußere Schallquelle zugrunde liegt. In den eher seltenen Fällen, in denen es eine im Körper des Betroffenen liegende, also innere Schallquelle gibt, spricht man von einem objektiven Tinnitus oder noch bezeichnender von einem „Körpergeräusch“. Fehlen sowohl eine äußere als auch eine innere Schallquelle, so handelt sich um einen subjektiven Tinnitus. Meist und auch im Folgenden ist ein subjektiver Tinnitus gemeint, wenn von Tinnitus bzw. Ohrgeräuschen gesprochen wird. Dieses Geräusch bzw. dieser Ton (durch umschriebene Frequenz charakterisiert) tritt oft akut, manchmal aber auch einschleichend und dem Betroffenen oft zunächst kaum bewusst auf. Meist klingt der Tinnitus innerhalb von Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen wieder ab. Wenn dies innerhalb von drei Monaten nach Erstmanifestation nicht passiert, wird aus dem akuten – definitionsgemäß – ein chronischer Tinnitus. Dies gilt auch dann, wenn das Ohrgeräusch nicht ununterbrochen wahrnehmbar ist, also ein intermittierender Tinnitus vorliegt. Wichtig ist – auch den Patienten – darauf hinzuweisen, dass der chronische Tinnitus ausschließlich durch ein Zeitkriterium definiert wird und chronisch nicht gleichbedeutend mit „für immer“ sein muss. Auch ein chronischer Tinnitus kann remittieren! Mit einer Prävalenz von etwa zehn Prozent ist Tinnitus häufig.

Vergleichbar einem Phantomschmerz

Die Ätiopathogenese des Tinnitus ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Viele Modellvorstellungen gehen davon aus, dass Tinnitus Folge einer Hörminderung ist. Passend dazu tritt dieser häufig akut nach einem Hörsturz oder einem Lärm-/Knalltrauma auf. Manche Forscher nehmen sogar an, dass eine Hörminderung eine unabdingbare Voraussetzung ist, selbst wenn sie im Einzelfall nicht immer nachgewiesen werden kann. Unstrittig dürfte sein, dass Tinnitus zumindest häufig auf einem primären pathophysiologischen Prozess im Innenohr beruht. Ganz vereinfacht ausgedrückt versucht der Kortex dann, fehlende Frequenzen durch geeignete Prozesse auszugleichen (so entspricht die Tinnitusfrequenz auch meist dem Bereich des größten Hörverlusts). Letztendlich werden durch die auditorische Deprivation neuroplastische Prozesse angestoßen, die im Sinne einer kompensatorischen Reaktion auf den reduzierten sensorischen Input zu gesteigerter Erregung entlang der gesamten zentralen Hörbahn führen.
Das Tinnitussignal entsteht – vergleichbar dem Phantomschmerz – also durch komplexe zentralnervöse Vorgänge und keineswegs einfach durch Überaktivität des Innenohrs; vielmehr ist es eher Folge eines peripheren Funktionsausfalls. Frühere Versuche, einen einseitigen, sehr belastenden Tinnitus zu beseitigen, indem man den Patienten das Innenohr herausoperiert bzw. den Hörnerv durchtrennt hat, um damit das Problem auf Kosten eines Hörverlustes zu beseitigen, blieben zwangsläufig frustran: Das Gehör war weg – der Tinnitus blieb.

Gestörte Filterung der Geräusche

Die Entstehung des sogenannten Tinnitussignals ist allerdings nur eine Ebene des Phänomens. Die andere, wahrscheinlich entscheidende, ist dessen Wahrnehmung. Um diese anschaulich zu verdeutlichen, hilft das stark vereinfachende Modell des Hörfilters. Der Hörfilter ist dafür zuständig, wichtige von unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden, d.h. nicht relevante Signale herauszufiltern und so nur wichtige Geräusche zur bewussten Wahrnehmung gelangen zu lassen. Abgesehen von der willentlichen Aufmerksamkeitslenkung erfolgt diese Filterung unbewusst. Akustische Wahrnehmungen sind wichtig, wenn sie selbst Stress oder Gefühle auslösen, oder wenn sie in stressigen oder emotionalen, z.B. bedrohlichen Situationen auftreten. Die Funktion des Hörfilters ist also evolutionär betrachtet sinnvoll, da sie uns einerseits vor Reizüberflutung schützt, andererseits notwendige Reaktionen auf wichtige akustische (gilt analog auch für andere Sinneseindrücke) Wahrnehmungen ermöglicht. Die notwendigen Informationen erhält der Hörfilter aus dem vegetativen (Stress) bzw. limbischen (Gefühle) System.

Emotionen und Stress als Trigger

Wie jedes „nicht normale“ Wahrnehmungs­phänomen bedeutet also auch das Tinnitussignal zunächst einmal Stress, oft löst es auch Gefühle, z.B. Angst oder Wut, aus. Irgendetwas muss doch der Grund sein, mutmaßlich etwas Gefährliches, eine Durchblutungsstörung oder gar ein Tumor? Angst, sei es vor möglichen gefährlichen Ursachen des Tinnitus, sei es davor, dass er nie wieder aufhört, öffnet den Hörfilter, das Tinnitussignal kann diesen passieren und der Tinnitus wird wahrgenommen. Er stört nicht nur in der Unterhaltung, sondern insbesondere dann, wenn eigentlich Ruhe einkehren sollte: „Der Tinnitus hindert mich daran einzuschlafen! Es ist ganz schrecklich!“ Dies, nicht zuletzt der Schlafmangel, bedeutet Stress, der ebenfalls den Hörfilter öffnet …
Der Tinnitus kann also einerseits selbst Gefühle und Stress auslösen, die den Hörfilter öffnen und somit die Tinnituswahrnehmung aufrechterhalten. Andererseits können starke Emotionen und/oder Stress anderer Ursache (aus Berufs- und/oder Privatleben) den Hörfilter öffnen. So führen bei einigen Patienten sogenannte Life Events dazu, dass ein vorbestehender, bis dahin kaum belastender und oft intermittierender Tinnitus plötzlich dekompensiert, also lauter, anhaltender und vor allem belastender wird. In der Hoffnung, der Tinnitus könnte vielleicht doch wieder verschwinden oder zumindest nicht noch schlimmer werden, fokussiert sich die Wahrnehmung bzw. unser Gehirn auf das Phänomen, das dadurch weiter an Intensität und Penetranz zunimmt.
Das vorwiegend somatische Modell der Tinnitus-Entstehung ist also um ein psychosomatisches Modell bzgl. dessen Aufrechterhaltung zu ergänzen. Während die Hörminderung zur Entstehung des (akuten) Tinnitus führt, erhalten Stress und Gefühle, seien sie vorbestehend oder reaktiv, dessen Wahrnehmung aufrecht und bedingen somit die Chronifizierung und gegebenenfalls Dekompensation.

Kompensiert oder dekompensiert

Unter einem kompensierten Tinnitus verstehen wir einen nicht bis mäßig, unter einem dekompensierten Tinnitus hingegen einen stark bis extrem belastenden Tinnitus. Bei der gängigen Einteilung der Tinnitusbelastung in vier Schweregrade entsprechen die Schweregrade I und II dem kompensierten, III und IV dem dekompensierten Tinnitus. Der dekompensierte Tinnitus geht oft mit einer depressiven Symptomatik oder einer anderen psychischen Komorbidität einher. Diese kann quasi analog zu Stress und Gefühlen betrachtet werden und wie diese vorbestehend oder sekundär durch den Tinnitus ausgelöst sein.
Auch wenn sich eine für die Tinnitus-Entstehung ursächliche Hörminderung findet, führt deren Abklingen, z.B. die Normalisierung des Gehörs nach einem Hörsturz, nicht zwangsläufig zum Verschwinden des Tinnitus. Der chronische Tinnitus kann gewissermaßen als autonom gewordenes, vom ansonsten gesunden Gehirn in bester Absicht generiertes Störprogramm persistieren.

Akuter Tinnitus – wie im Fall von Herbert K.

Herbert K. sitzt erkennbar angespannt vor Ihnen. Er berichtet über das unerträgliche Ohrgeräusch und mache sich Sorgen. Aber eigentlich habe er keine Zeit und anschließend wichtige Termine …
Wie üblich bildet auch beim Tinnitus die Anamnese die Basis der weiteren Maßnahmen. Die Tinnitus-Anamnese betrifft dessen Beginn (Situation, plötzlich vs schleichend), Modulation (bewegungsabhängig – insb. HWS, Kiefer) und Schweregrad (lästig / beeinträchtigend). Wichtig sind darüber hinaus die audiologische Anamnese (Hörverlust, Druckgefühl, Geräuschempfindlichkeit, Gleichgewichtsstörungen/Schwindel) sowie die medizinische Anamnese (HNO, Orthopädie – HWS, Zahnarzt/Kieferorthopäde – CMD, Bruxismus, Innere Medizin sowie Psychiatrie und Psychotherapie), schließlich die Medikation (u.a. ototoxische Medikamente) und einige Angaben zur Biografie (unter anderem Lärmexposition, Life Events). Viele dieser Angaben sind Ihnen als Hausarzt wahrscheinlich ohnehin bekannt.

Basis: vollständige HNO-Untersuchung

Die empfohlene Basisdiagnostik umfasst eine vollständige HNO-ärztliche Untersuchung (insb. Otoskopie), Tonaudiometrie, Sprachaudiometrie, Tinnitusanalyse (Frequenz, Lautstärke, Minimal-masking-Level), Geräuschtoleranz, Tympanometrie, Stapediusreflex und eine Auskultation (Ohr, Karotiden – bei pulsierendem Tinnitus). Diese sollte zeitnah, muss aber nicht notfallmäßig erfolgen. Weiterführende Diagnostik (BERA – Hirnstammaudiometrie, MRT, Unbehaglichkeitsschwellen, Vestibulometrie, funktionelle Diagnostik der Kopf-/Hals- und Kiefergelenke) ist nur bei klinischer Indikation notwendig.

Organische Ursachen selten

Die Therapie des akuten Tinnitus sollte, in Ermangelung umgehend effektiver und meist auch kausaler Möglichkeiten, mit einem „tief Luftholen“ und vor allem Informationen, dem sogenannten Tinnitus-Counselling, beginnen. Meist – vielleicht abgesehen von den Fällen, in denen er im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Hörsturz oder einem Lärmtrauma auftritt – weiß niemand so ganz genau, woher der Tinnitus kommt. Dass es oftmals und ganz allgemein etwas mit Stress zu tun hat, ist anzunehmen. Oft verschwindet der Tinnitus innerhalb von Stunden bis Wochen auch ohne besondere Maßnahmen. Abgesehen von einer häufigen Hörminderung liegen nur in den seltensten Fällen ein Hirntumor, umschriebene Durchblutungsstörungen oder andere organische Erkrankungen zugrunde, sodass diese – über die Basisdiagnostik hinaus – nur bei entsprechender klinischer Indikation „umfassend“ abgeklärt bzw. ausgeschlossen werden sollten.
Es sollte abgeklärt werden, inwieweit eine Hörminderung, sei sie vorbestehend oder akut, z. B. im Sinne eines idiopathischen Hörsturzes, besteht. Auch eine Hyperakusis sollte zumindest erfragt werden. Die Angst, aufgrund des Ohrgeräusches möglicherweise verrückt zu werden und/oder keine Lebensqualität mehr zu haben, ist verständlich, in der Regel aber unbegründet. Dies gilt ebenso bzgl. ursächlicher oder in Folge drohender schlimmer körperlicher Erkrankungen. Wenn es gelingt, durch substanzielle Informationen den Tinnitus zu „entkatastrophisieren“, ist bereits viel gewonnen. Die Betonung der positiven Prognose und der selbst bei anhaltendem Tinnitus ggf. vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten ist dabei äußert wichtig.

Wie sieht die weitere (Akut-) Behandlung aus?

Vieles bis alles von dem, was früher quasi üblich war, lässt sich – evidenzbasiert – nicht mehr wirklich rechtfertigen. Eine der Ideen war, dass dem Tinnitus eine Minderdurchblutung des Innenohres oder auch ein entzündlicher Prozess zugrunde liegt, weshalb man – analog zum ­Hörsturz (für den ähnliche Ursachen postuliert werden, wenngleich auch beim idiopathischen Hörsturz die Ursache ja letztlich unklar ist) durchblutungsfördernde Maßnahmen ergriff (z. B. ­HAES-Infusionen) und Kortison verabreichte. Die aktuellen diesbezüglichen Empfehlungen sind zurückhaltender, weil die Evidenz für die genannten Verfahren gering ist (z. B. etwa jeweils 250 mg Prednisolon an drei aufeinanderfolgenden Tagen) und zumal HAES-Infusionen akute Nebenwirkungen haben können. Weitere Empfehlungen, etwa bei ausbleibender Besserung intratympanal Steroide, z. B. Dexamethason, zu verabreichen, fallen in den Zuständigkeitsbereich des weiterbehandelnden HNO-Arztes und sind ihrerseits in ihrer Wirksamkeit fraglich. Insofern ist, soweit organische Ursachen ausgeschlossen wurden, zunächst 1–2 Tage (oder sogar länger bzw. dauerhaft) abzuwarten und Ruhe zu bewahren eine vertretbare Haltung.

Krankschreibung kann kontraproduktiv sein

Wenn Patienten auf eine Behandlung drängen, dann sind nebenwirkungsarme Ginkgo biloba-Präparate beliebt. Eine Krankschreibung, mitunter reflektorisch ausgestellt, ist eine ambivalente Angelegenheit: Einerseits zwingt sie den Patienten (zumindest äußerlich) zur Ruhe und entlastet ihn von akuten Anforderungen. Andererseits sitzt er dann zuhause und kann sich komplett auf den Tinnitus konzentrieren, was eher kontraproduktiv sein kann. Wenn Stress – wie im Fall von Herbert K. – über die vom Tinnitus selbst ausgelöste Belastung hinaus als auslösender und/oder aufrecht erhaltender Faktor des Tinnitus ein Thema ist, dann handelt es sich absehbar um ein längerfristiges, die aktuelle berufliche und private Situation eines Menschen betreffendes, nicht selten mit seiner Persönlichkeit zusammenhängendes und entsprechend komplexes Problem. Idealerweise deutet man den akuten Tinnitus dann als Warnschuss und versucht ausgehend davon die Gesamtsituation des Betroffenen in den Blick zu nehmen: Wo, an welchen Stellen und wie ist längerfristig Entlastung möglich? Idealerweise ohne von einem ins andere Extrem zu fallen. Vieles davon kann pragmatisch lösbar sein, mitunter liegen psychotherapeutische Maßnahmen nahe. Wenn sich Stress-Reduktion auf eine absehbar kurzfristige Krankschreibung reduziert, dann führt dies mitunter dazu, dass die dahinter liegende Problemkonstellation noch größer wird …

Autoren: Dr. Ulrich Stattrop, Prof. Dr. Dr. 
Andreas Hillert

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