Frühgeborene Kinder sind ophthalmologische Risikopatienten. Vor allem eine fortschreitende Frühgeborenenretinopathie gilt es rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Die Therapie mit Anti-VEGF-Medikamenten hat die Möglichkeiten erweitert. Prof. Dr. Andreas Stahl informierte auf der AAD-Pressekonferenz über die aktuellen Leitlinien. Dr. Bert Müller berichtete über Erfahrungen der klinischen Behandlung. Die Betreuung der „Frühchen“ erfordert viel Erfahrung, Sorgfalt und Einfühlungsvermögen.
Ein Risiko, eine Frühgeborenretinopathie zu entwickeln, besteht vor allem bei Kindern, die vor der 31. Schwangerschaftswoche geboren werden. Die Netzhaut der Augen ist noch nicht hinreichend ausgereift und insbesondere noch nicht ausreichend mit Blutgefäßen versorgt. Die Entwicklung der Blutgefäße wird über den Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) gesteuert. Die Bildung dieses Signalmoleküls wird durch die frühe Geburt erst unterbrochen, dann folgt eine überschießende Produktion. So kann es zu einer unkontrollierten Bildung von Blutgefäßen in der Netzhaut kommen, deren Folge eine Netzhautablösung und die Erblindung des Kindes sein kann. Mit einer rechtzeitigen Behandlung der Frühgeborenenretinopathie (retinopathy of prematurity, ROP) lässt sich die Erblindung jedoch verhindern.
Augenärztliches Screening
Zum Erkennen einer ROP ist ein augenärztliches Screening essenziell, erläuterte Prof. Dr. Andreas Stahl, Universität Greifswald. In der S2k-Leitlinie „Augenärztliche Screening-Untersuchung bei Frühgeborenen“ ist festgelegt, bei welchen Kindern zu welchem Zeitpunkt Untersuchungen stattfinden sollen [1]. Angezeigt ist das Screening bei Kindern, die vor Vollendung der 31. Schwangerschaftswoche geboren wurden oder bei Kindern, die bei der Geburt weniger als 1500 g wogen. Außerdem werden all jene Frühgeborenen untersucht, bei denen zusätzliche Risikofaktoren vorliegen, z.B. wenn sie mehr als fünf Tage lang Sauerstoff erhielten oder wenn sie an bestimmten Begleiterkrankungen leiden. Die erste augenärztliche Untersuchung findet in der sechsten Woche nach der Geburt statt, bei extrem unreifen Frühgeborenen allerdings nicht vor einem Alter von 31 Wochen. Folgeuntersuchungen finden meist alle zwei Wochen statt, bei Hinweisen auf eine beginnende ROP wöchentlich. Ist der Befund deutlich rückläufig oder wurde der errechnete Geburtstermin überschritten, dann können die Kontrollintervalle um eine Woche verlängert werden. Im weiteren Verlauf sollten die Kinder weiterhin regelmäßig augenärztlich untersucht werden.
Laserkoagulation oder Anti-VEGF-Medikamente
Die Behandlungsmöglichkeiten der ROP sind in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden. Ob eine Behandlung notwendig ist, hängt davon ab, welche Bereiche der Netzhaut betroffen sind und wie ausgeprägt die Veränderungen sind. Heute kommen im Wesentlichen zwei Verfahren zum Einsatz: Die Laserkoagulation einerseits und die Gabe von Anti-VEGF-Medikamenten ins Augeninnere andererseits. In Ausnahmefällen kommt auch die Kryokoagulation zum Einsatz oder eine Operation. Die ophthalmologischen Fachgesellschaften haben in einer Stellungnahme zur Anti-VEGF-Therapie der ROP Kriterien zur Therapiewahl zusammengefasst [2].
Bei der Laserkoagulation werden noch nicht durchblutete Teile der Netzhaut punktuell mit dem Laser koaguliert. Eine Behandlungssitzung reicht meist aus, um die ROP zu stoppen. Allerdings handelt es sich um einen zeitaufwendigen Eingriff, der meist in Narkose durchgeführt werden muss. Dabei werden die gelaserten Netzhautbereiche unwiederbringlich zerstört, was Gesichtsfeldeinschränkungen zur Folge hat. Diese Bereiche produzieren dann aber kein VEGF mehr, es kommt nicht mehr zur überschießenden Bildung von Blutgefäßen und die übrige, nicht gelaserte Netzhaut bleibt erhalten.
Die Anti-VEGF-Therapie hat dagegen den Vorteil, dass der Eingriff nur kurz dauert und auch ohne Narkose möglich ist. Zudem bleibt die Chance erhalten, dass die Netzhaut sich bis in ihre Randbereiche hin normal entwickeln kann, so dass es nicht zu Gesichtsfeldeinschränkungen kommt. Auch die häufig mit einer ROP verbundene Entwicklung einer Kurzsichtigkeit ist nach einer Anti-VEGF-Therapie meist weniger ausgeprägt als nach einer Laserbehandlung. Die Nachteile sind jedoch auch nicht zu vernachlässigen: Das Medikament wird direkt ins Augeninnere gespritzt, dabei besteht ein, wenn auch sehr geringes, Risiko für eine Endophthalmitis. Außerdem lassen die Anti-VEGF-Wirkstoffe mit der Zeit nach, so dass es zu einer Reaktivierung der ROP kommen kann.
Chancen und Risiken der Medikamenteninjektion
Seit dem Jahr 2010 wird die Behandlung der ROP mit Anti-VEGF-Medikamenten erforscht. Bisher fanden Untersuchungen zu drei Präparaten statt, erläuterte Dr. Bert Müller, Charité Berlin. Der Wirkstoff Ranibizumab erhielt 2019 die Zulassung für die Behandlung bei Frühgeborenen. Im Off-Label-Use wird auch Bevacizumab verwendet. Aflibercept erhielt im November 2022 eine Zulassungsempfehlung in der EU. Damit stehen mehrere Wirkstoffe zur Auswahl. In der täglichen Praxis gilt es, zunächst zu entscheiden, ob die Laserkoagulation zum Einsatz kommt oder die medikamentöse Therapie und dann abzuwägen, welches Präparat am besten geeignet ist.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Bei der Behandlung der Frühgeborenen sind auch etliche Besonderheiten zu berücksichtigen – die altbekannte Weisheit „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ gilt für Frühgeborene ganz besonders. Es beginnt schon mit der korrekten Dosierung des Medikaments. In das kleine Auge wird nur eine winzige Menge gegeben – zwei Hundertstel eines Milliliters (20μl).
Für die Desinfektion der Lider und der Haut um das Auge herum kommen jodfreie Mittel zum Einsatz, um sicherzustellen, dass das Jod nicht die Aktivität der Schilddrüse beeinflusst. Auch die Größenverhältnisse im Auge sind bei Kindern anders als bei Erwachsenen: Die Linse ist im Verhältnis zum Augapfel größer. Beim Ansetzen der Injektionsnadel ist das zu berücksichtigen, denn schon eine leichte Berührung der Linse würde eine Trübung (Katarakt) verursachen.
Besonderheiten der einzelnen Wirkstoffe
Zu berücksichtigen sind zudem die Besonderheiten der einzelnen Wirkstoffe. So ist bekannt, dass Bevacizumab aus dem Auge in den Körper des Kindes gelangen kann. Eine Freisetzung ist über Wochen messbar, aber es ist noch unklar, welche Nebenwirkungen er dort auslösen kann. Da Bevacizumab für die Therapie der ROP nicht zugelassen ist, müssen die Eltern besonders sorgfältig aufgeklärt werden, wenn es eingesetzt wird.
Bei Ranibizumab gab es zunächst relativ viele Kinder, die auf die Therapie nicht ansprachen: Bei neun Prozent der behandelten Säuglinge versagte die Therapie. Da vermutet wurde, dass die winzige Menge von 20μl in einer Tuberkulinspritze nicht genau genug dosierbar ist, wird das Präparat inzwischen in einer Präzisionsspritze bereitgestellt. Die Rezidivrate liegt für Ranibizumab bei bis zu 21 Prozent. Das heißt, dass bis zu einem Fünftel der Kinder nach durchschnittlich sieben Wochen erneut behandelt werden müssen. Bei Bevacizumab liegt die Rezidivrate dagegen bei neun Prozent der Kinder, die im Durchschnitt nach 15 Wochen noch einmal behandelt werden müssen.
Für die Behandlung und dann erst recht für die Entscheidung, ob und wann ein Kind erneut behandelt werden muss, ist viel Erfahrung nötig. Ein Rezidiv verläuft langsamer als die erste Erkrankung und auch die Halbwertszeit des eingesetzten Antikörpers spielt eine Rolle. Mit der Zeit reifen auch die Wände der Blutgefäße und reagieren nicht mehr so schnell auf VEGF. Daher kann die Indikation zur Folgebehandlung individuell variieren.
Nachkontrollen
Das ROP-Screening findet in der Klinik statt, in der das Kind direkt nach der Geburt betreut wird. Aber auch nach der Entlassung ist eine kompetente Nachsorge erforderlich. Zumindest die Kinder, die wegen einer ROP mit Anti-VEGF-Medikamenten behandelt wurden, sollten auch weiterhin in einer spezialisierten Einrichtung betreut werden.
Denn bei den behandelten Kindern werden die Randbereiche der Netzhaut wahrscheinlich nie vollständig ausreifen. Es ist zu erwarten, dass es am Rand immer Netzhautgebiete geben wird, in denen es keine Blutgefäße gibt und in denen unterschwellig immer noch der Wachstumsfaktor VEGF freigesetzt wird. Das kann auch über Monate und Jahre andauern und birgt das Risiko, dass sich eine langsam fortschreitende krankhafte Gefäßentwicklung ergibt. Die Folge können Narben sein und Zugkräfte an der am Rand nur sehr schlecht einsehbaren Netzhaut. Die „adulte“, also „erwachsene“ ROP gilt inzwischen als eigenes Krankheitsbild.
Die Eltern aller Frühgeborenen sollten einen ROP-Pass erhalten, in dem Untersuchungsergebnisse, Behandlungen und Kontrolltermine eingetragen werden.
Literatur:
1. S2k-Leitlinie Augenärztliche Screening-Untersuchung bei Frühgeborenen, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024-010, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/024-010
2. Stellungnahme der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft, der Retinologischen Gesellschaft und des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands zur Anti-VEGF-Therapie der Frühgeborenenretinopathie, https://www.augeninfo.de/cms/fileadmin/stellungnahmen/Anti-VEGF-Therapie_der_Fruehgeborenenretinopathie_2020_05.pdf
Quelle: Pressekonferenz der AAD 2023
Bildquelle: © Brocreative – stock.adobe.com



