Stephanie Wiege
Auch im europäischen Ausland hat die Arzthaftung Hochkonjunktur. Der Oberste Gerichtshof von Österreich (OGH Österreich) hat sich mit Beschluss vom 22.04.2021 (Az.: 3 Ob 9/21a) letztinstanzlich u. a. mit haftungsrechtlichen Fragen von Sklerosierungsbehandlungen auseinandersetzt. Neben der Frage der Indikation waren auch die Anforderungen an die Aufklärung bei Eingriffen zu hinterfragen, die als Heilversuch zu werten sind.

Der Fall
Der 21-jährige Kläger hatte Erektionsprobleme bei sexuellem Kontakt mit Kondomen. Aus diesem Anlass suchte er einen Urologen auf, der diese auf eine psychische Ursache zurückführte, weil der Kläger sowohl regelmäßig nächtliche Erektionen bzw. Spontanerektionen als auch beim Sexualverkehr ohne Kondom keine Probleme hatte. Dieser Arzt verschrieb dem Kläger Cialis® 5 mg. Der Patient nahm die Tabletten zweimal und danach nicht mehr, weil er nach deren Einnahme mit einer heftigen Erektion reagierte. Der Patient glaubte nicht an eine psychische Ursache seiner Erektionsstörungen und beabsichtigte deshalb, eine körperliche Untersuchung durchführen zu lassen.
Über eine Anzeige im Internet stieß er auf die Homepage des später beklagten Urologen und suchte ihn schließlich auf. Der Patient beschrieb, dass er zwar Erektionen bekomme, diese aber in bestimmten Situationen nicht halten könne, so etwa, dass er beim Überziehen des Kondoms einen Zusammenbruch der Erektion habe. Da der Patient ihm keinen Hinweis auf eine klassische degenerative Erkrankung als Ursache seiner Erektionsstörungen, auf einen Testosteronmangel oder Libidoverlust bot, die Einnahme von PDE-5-Hemmern ablehnte und erklärte, nicht an eine psychische Ursache für seine Erektionsstörung zu glauben, schlug der Urologe dem Patienten zur Ursachenabklärung die Durchführung einer CT-Cavernosographie vor, wobei er eine caverno-venöse Insuffizienz (venöses Leck) als mögliche Ursache für die Probleme des jungen Patienten ins Spiel brachte. Die CT-Untersuchung unter Verabreichung einer eine Erektion herbeiführenden Injektion mit Alprostadil erfolgte. Bei dieser Gelegenheit nahm der Behandler den Patienten auch körperlich in Augenschein. Anhand des CT-Bildes diagnostizierte er das Bestehen eines venösen Lecks und setzte den Patienten davon in Kenntnis. Der Arzt schlug ihm zur Behebung desselben eine Operation (Sklerosierungsbehandlung) vor, die er als minimalen Eingriff ohne besonderes Risiko beschrieb. Der Eingriff werde unter örtlicher Betäubung durchgeführt. Der Beklagte fahre in die Vene hinein, gebe Sklerosierungsmaterial hinein und die krankhaft vergrößerte Vene ziehe sich auf Normalgröße zusammen. Während der Verabreichung des Sklerosierungsmittels müsse der Patient über einen von ihm näher genannten Zeitraum von 30 Sekunden oder 1 Minute die Luft anhalten, damit es wirke. Diese Methode habe er selbst ent- bzw. weiterentwickelt. Zum Erfolg der Methode erklärte der Arzt, es gebe 70 bis 80 % zufriedener Patienten. Das Schlimmste, was passieren könne, sei, dass der Zustand des Patienten so bleibe wie vorher. In der Folge vergewisserte sich der Patient bei seinem Arzt noch mehrfach, ob die von ihm vorgeschlagene Behandlung tatsächlich risikolos und ohne Nebenwirkungen sei, was ihm versichert wurde.
Der Eingriff wurde durchgeführt. Der Patient konnte während der Behandlung das Valsalva-Manöver beim ersten Mal nicht in der vom Arzt für notwendig erachteten Dauer durchführen, sodass es wiederholt wurde. Dieses Manöver – Luft anhalten und Bauchpressen – dient dazu, einen Stopp des venösen Abstroms herbeizuführen.
Die vorgenommene Sklerosierungsbehandlung führte beim Patienten zu einer Beeinträchtigung der Corpora cavernosa. Dies brachte und bringt nachhaltige schwere Erektionsprobleme des Klägers mit sich. Die seitlichen Schwellkörper sind zusammengezogen und fühlen sich taub und unangenehm an. Eine Erektion zur Durchführung von penetrativem Sex ist dem Kläger nur unter Verwendung von Hilfsmitteln (Medikamente, Penispumpe, Penisring) möglich.
Das Urteil
Das sachverständig beratene OHG Österreich hat dem Patienten ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 € zugesprochen. Zudem wurde festgestellt, dass der beklagte Arzt dem Patienten für sämtliche zukünftigen, derzeit noch nicht bekannten oder bezifferbaren Folgen und Schäden, die aus der fehlerhaften Sklerosierungsbehandlung resultieren, haftet.
Die sachverständige Begutachtung ergab, dass bereits die diagnostische Abklärung nicht korrekt erfolgte. Dass beim Patienten tatsächlich ein venöses Leck vorhanden und auch behandlungsbedürftige Ursache bzw. Mitursache seiner präoperativen Erektionsstörungen war, war nicht feststellbar. Überwiegend wahrscheinlich war dies nicht der Fall.
Auch der Sklerosierungsbehandlung fehlt es an der rechtfertigenden Indikation. Zudem entsprach die konkrete Durchführung nach den sachverständigen Feststellungen nicht den Regeln der ärztlichen Kunst. Das Wirkprinzip der Sklerosierungstherapie ist eine Zerstörung der Gefäßinnenwand mit begleitender Thrombosierung. Unmittelbar danach kommt es zu einem Anschwellen der behandelten Venen, anschließend zu einem Schrumpfen und einer narbigen Umwandlung der behandelten Gefäße. Seine Effektivität ist patientenabhängig, weil nicht alle Menschen dieses gleichwertig ausführen können. Das Manöver wird in der medizinischen Literatur als nicht ausreichend beschrieben. Die Kontrolle der Verteilung des Sklerosierungsmittels durch den Beklagten erfolgte in einer nicht üblichen und nicht effektiven Weise. Die vom beklagten Urologen durchgeführte Sklerosierungstherapie ist aus medizinischer Sicht zwar keine experimentelle Methode, jedoch keine in den gängigen internationalen Leitlinien – jenen der Europäischen Gesellschaft für Urologie [„EAU“].- genannte Therapieform. Sie ist allgemein als Heilversuch anzusehen, der erst dann indiziert ist, wenn sämtliche in den Leitlinien angeführten Therapieoptionen ausgeschöpft sind. Diese Voraussetzung war vorliegend nicht gegeben, fehlte doch etwa eine für den Fall des Patienten am ehesten taugliche sexualmedizinische Psychotherapie.
Zuletzt wurde dem Behandler auch eine fehlerhafte Aufklärung attestiert, weil der Patient den Arzt mehrfach fragte, ob die von ihm vorgeschlagene Behandlung tatsächlich risikolos und ohne Nebenwirkung sei, der Urologe ihm dies – objektiv unrichtig – versicherte und ihm als schlimmstes Szenario darlegte, dass sein Zustand so bleibe wie bisher. Einem expliziten Aufklärungswunsch des Patienten hat der behandelnde Arzt – abseits hier nicht vorliegender Ausnahmesituationen – zu entsprechen.
Fazit
Ein diagnostischer oder therapeutischer Eingriff, der medizinisch nicht indiziert ist, ist fehlerhaft, auch wenn er sorgfältig durchgeführt wird. Unnötige Eingriffe gilt es zu vermeiden! Die Indikation muss durch die dokumentierte Anamnese, die Beschwerden oder die erhobenen Befunde – zumindest vertretbar – nachweisbar sein. Anderenfalls haftet der Arzt für sämtliche Komplikationen, die aus dem Eingriff resultierten. Dies gilt selbst dann, wenn sie auch bei ordnungsgemäßem Vorgehen nicht immer sicher vermeidbar sind. Die Risiken eines Eingriffs dürfen gegenüber dem Patienten nicht heruntergespielt werden. Ihm sollten nicht nur die Erfolgsaussichten, sondern auch die Grenzen und möglichen schwerwiegenden Komplikationen der Behandlung klar und deutlich vor Augen geführt werden. Handelt es sich bei dem Eingriff – wie vorliegend – zusätzlich um einen sogenannten Heilversuch, sind erhöhte Anforderungen zu beachten. Hier ist dem Patienten insbesondere deutlich zu machen, dass der geplante Heilversuch keine gängige, dem Facharztstandard entsprechende Behandlung ist. ◼

Korrespondenzadresse:
Dr. jur. Stephanie Wiege
Fachanwältin für Medizinrecht
Fachanwältin für Strafrecht
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