Aus UroForum, Heft 08/2023
Stephanie Wiege
§ 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB regelt die Anforderungen an die Aufklärung des Patienten in zeitlicher Hinsicht. Nach dieser Vorschrift muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann. Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 20.12.2022 (AZ VI ZR 375/21) die rechtlichen Vorgaben zur Rechtzeitigkeit der Risikoaufklärung konkretisiert. Dieser höchstgerichtlichen Entscheidung wurde in Fachkreisen mit Spannung entgegengesehen, da zuvor diverse Obergerichte die bisherige Praxis der Unterzeichnung des Einwilligungsformulars durch den Patienten direkt im Anschluss an das Aufklärungsgespräch infrage gestellt hatten.
Der Fall
Der Kläger litt an chronisch rezidivierenden Ohrentzündungen und Paukenergüssen. Er wurde von dem ihn behandelnden Facharzt im Hinblick auf eine mögliche Ohroperation (Mastoidektomie) in die HNO-Klinik des von der Beklagten betriebenen Klinikums überwiesen. Der Kläger wurde von einer Ärztin über die Risiken des beabsichtigten Eingriffs aufgeklärt. Im Anschluss an das Aufklärungsgespräch unterzeichnete er das Formular zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff. 3 Tage später wurde der Kläger stationär aufgenommen und der Eingriff durchgeführt. Intraoperativ trat eine stärkere arterielle Blutung auf. Im CT zeigte sich eine Hirnblutung. Bei der daraufhin erfolgten neurochirurgischen Intervention wurde festgestellt, dass es bei dem Ersteingriff zu einer Verletzung der Dura, der vorderen Hirnschlagader und zu einer Durchtrennung des Riechnervs links gekommen war.
U.a mit der Behauptung, er sei vor der Ohroperation (Mastoidektomie) unzureichend aufgeklärt worden, hat der Kläger das beklagte Klinikum auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch genommen. Das Landgericht Bremen hatte die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht Bremen den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des Schadens aus der ärztlichen Behandlung durch die Beklagte dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision begehrt die beklagte Klinik die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Die Entscheidung
Der Bundesgerichtshof hat einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint. Es bejahte – im Gegensatz zum Oberlandesgericht – eine wirksame und zeitgerechte Einwilligung des Patienten. Hierzu führte es sehr instruktiv die rechtlichen Grundsätze zur Rechtzeitigkeit der Einwilligung aus.
Zunächst stellte der Bundesgerichtshof klar, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist und den Arzt insoweit ein Verschulden trifft. Eine wirksame Einwilligung des Patienten setzt dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraus. Nach Bestätigung der inhaltlichen Richtigkeit des konkreten Aufklärungsgesprächs, konstatierte der Bundesgerichtshof, dass das Oberlandesgericht den Wortlaut des § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB überspannt und an die der Behandlerseite obliegenden Pflichten zur Einholung der Einwilligung überzogene Anforderungen gestellt hat. Die Bestimmung enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste, sondern kodifiziert die bisherige Rechtsprechung, der zufolge der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann.
Der Gesetzgeber hat die Einwilligung des Patienten in § 630d BGB geregelt. Danach ist der Behandelnde verpflichtet, vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, die Einwilligung des Patienten einzuholen. Gemäß § 630d Abs. 2 BGB setzt die Wirksamkeit der Einwilligung voraus, dass der Patient oder im Fall des Absatzes 1 Satz 2 der zur Einwilligung Berechtigte vor der Einwilligung nach Maßgabe von § 630e Abs. 1 bis 4 BGB aufgeklärt worden ist. In § 630e BGB sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur Selbstbestimmungsaufklärung kodifiziert worden.
§ 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB regelt die Anforderungen an die Aufklärung des Patienten in zeitlicher Hinsicht. Nach dieser Vorschrift muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann. Bereits nach dem Wortlaut und der Stellung im Gesetz bezieht sich die Bestimmung allein auf den Zeitpunkt, zu dem das Aufklärungsgespräch stattzufinden hat, das rechtzeitig vor dem Eingriff erfolgen muss. Das Gesetz sieht keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde; sie enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste. Vielmehr fordert die Bestimmung eine Aufklärung, die die Möglichkeit zu einer reflektierten Entscheidung gewährleistet. Die Aufklärung muss zu einem Zeitpunkt erfolgen, in dem der Patient noch im vollen Besitz seiner Erkenntnis- und Entscheidungsfreiheit ist und nicht unter dem Einfluss von Medikamenten steht; sie darf nicht erst so kurz vor dem Eingriff erfolgen, dass der Patient wegen der in der Klinik bereits getroffenen Operationsvorbereitungen unter einen unzumutbaren psychischen Druck gerät oder unter dem Eindruck steht, sich nicht mehr aus einem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf lösen zu können.
Zu welchem konkreten Zeitpunkt ein Patient nach ordnungsgemäßer – insbesondere rechtzeitiger – Aufklärung seine Entscheidung über die Erteilung oder Versagung seiner Einwilligung trifft, ist seine Sache. Sieht er sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage, ist es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Wünscht er dagegen noch eine Bedenkzeit, so kann von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und von der Erteilung einer – etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen – Einwilligung zunächst absieht. Der – zum Zwecke einer sinnvollen Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts – ordnungsgemäß aufgeklärte Patient ist nicht passives Objekt ärztlicher Fürsorge; er ist vielmehr grundsätzlich dazu berufen, von seinem Selbstbestimmungsrecht aktiv Gebrauch zu machen und an der Behandlungsentscheidung mitzuwirken. Es kann von ihm grundsätzlich verlangt werden zu offenbaren, wenn ihm der Zeitraum für eine besonnene Entscheidung nicht ausreicht. Tut er dies nicht, so kann der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass er keine weitere Überlegungszeit benötigt.
Eine andere Beurteilung ist allerdings – sofern medizinisch vertretbar – dann geboten, wenn für den Arzt erkennbare konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Patient noch Zeit für seine Entscheidung benötigt. Solche Anhaltspunkte können beispielsweise in einer besonders eingeschränkten Entschlusskraft des Patienten liegen. Gleiches gilt, wenn dem Patienten nicht die Möglichkeit gegeben wird, weitere Überlegungszeit in Anspruch zu nehmen. Das ist etwa – von medizinisch dringenden Behandlungsmaßnahmen abgesehen – dann anzunehmen, wenn der Patient zu einer Entscheidung gedrängt oder „überfahren“ wird.
Entsprechend dieser Grundsätze war die Aufklärung im konkreten Streitfall nach Auffassung des Bundesgerichtshofs zeitgerecht und nicht zu beanstanden.
Klarstellend führte das Gericht aus, dass die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff kein Rechtsgeschäft ist, sondern vom Gesetzgeber als frei widerrufliche Disposition über ein höchstpersönliches Rechtsgut konzipiert wurde. Die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff ist nicht an eine bestimmte Form gebunden. Sie kann ausdrücklich erfolgen oder sich konkludent aus den Umständen und dem gesamten Verhalten des Patienten ergeben. So kann eine Einwilligung anzunehmen sein, wenn sich der Patient bewusst der Behandlung unterzieht. Entscheidend ist, ob der Patient zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Eingriff eine wirksame Einwilligung erklärt und diese nicht widerrufen hat.
Fazit
Der Bundesgerichtshof hat mit dieser Grundsatzentscheidung bestehende Unsicherheiten zur Rechtzeitigkeit der Aufklärung beseitigt. Erfreulicherweise kann die gängige Praxis der Unterzeichnung des Einwilligungsformulars durch den Patienten direkt im Anschluss an das Aufklärungsgespräch beibehalten werden. Man muss sich indes klarmachen, dass auch nach der referierten Entscheidung zwischen Aufklärung und Eingriff noch immer ausreichend Zeit für den Patienten bestehen muss, um die Vor- und Nachteile des geplanten Eingriffs abzuwägen und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrzunehmen.

Korrespondenzadresse:
Dr. jur. Stephanie Wiege
Fachanwältin für Medizinrecht
Fachanwältin für Strafrecht
Kanzlei Ulsenheimer Friederich
Maximiliansplatz 12
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