Funktionelle Störungen sind eine sehr häufige Fehldiagnose beim Tourette-Syndrom, berichtete Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl, Hannover. Um zu vermeiden, dass funktionelle Störungen wie Tics behandelt werden und es dadurch zu einer Fehl- oder Übertherapie kommt, sei es essenziell, dies durch eine gründliche Anamnese herauszudifferenzieren.
Worin liegen die Unterschiede zwischen den beiden Krankheitsbildern?
Das Tourette-Syndrom (TS) ist die häufigste Tic-Störung im Erwachsenenalter und durch das Bestehen von motorischen und vokalen Tics mit Beginn vor dem 18. Lebensjahr und einer Dauer von mindestens einem Jahr gekennzeichnet. Meist beginnen Tics bereits im Kindergarten- oder Grundschulalter. Es handelt sich um plötzliche, schnelle, wiederkehrende, nicht rhythmische Bewegungen oder Vokalisationen, die gewöhnlich in Schüben auftreten und in Häufigkeit, Intensität, Anzahl, Komplexität und Art des Tics zu- und abnehmen. Tics beginnen zumeist im Gesicht, z.B. mit Zuckungen der Augen und Grimassen, und distribuieren sich rostrocaudal. Sie sind willentlich unterdrückbar und beeinflussbar.
Funktionelle neurologische Störungen haben eine allgemeine Prävalenz von 0,2 – 2%. Die häufigsten Vertreter sind nicht-epileptische Anfälle und funktionelle Bewegungsstörungen. Seit der Corona-Pandemie ist eine durch soziale Medien ausgelöste Massenerkrankung mit Tourette-ähnlichem Verhalten zu beobachten, so Müller-Vahl [1]. Manche sprächen von einer Pandemie in der Pandemie. Als Index-Patient gilt der Youtuber Jan Zimmermann. Die Betroffenen zeigen im Gegensatz zu Tics überwiegend komplexe Bewegungen an Armen, Rumpf und Kopf. Es kommt zu eher komplexen Vokalisationen mit Schimpfwörtern, Beleidigungen, Kommentaren mit starkem Umgebungsbezug. Es fehlen jedoch einfache Bewegungen und Geräusche, wie sie bei Tics typisch sind. Der Beginn ist meist abrupt mit starken Symptomen, vor allem ab einem Alter von 14 Jahren. „Hinterfragen Sie die Diagnose Tourette, wenn in der Sprechstunde viele Schimpfwörter geäußert werden. Dies spricht eher für eine funktionelle Störung“, empfahl die Expertin.
Hinsichtlich der Behandlung funktioneller Störungen stellt die Psychotherapie bislang die einzige Option dar. Vorläufige Daten einer noch laufenden Studie zeigen, dass allein schon die Kenntnis der Diagnose in 88 % der Fälle zu einer Besserung der Symptomatik führte. Laut Müller-Vahl sei es zudem hilfreich, in der Kommunikation das Wort Tic zu vermeiden, da dies gedanklich mit dem Tourette-Syndrom verbunden sei. Die Prognose bei den funktionellen Tourette-ähnlichen Störungen sei gut und nicht zu vergleichen mit chronischen Tics oder Tourette-Syndrom.
Martha-Luise Storre
Literatur:
- Fremer C et al. Mass social media-induced illness presenting with Tourette-like behavior. Front Psychiatry. 2022 Sep 20;13:963769.
Quelle: Wissenschaftliches Symposium „Zucken, Schreien, Schimpfen: Tourette-Syndrom oder funktionelle Störungen?“ im Rahmen des DGPPN-Kongresses am 30. November 2023 in Berlin
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